Religion, Angst und Schuldgefühle

Ob Beschneidung oder Mohammed-Video – in Deutschland neigt man zurzeit dazu, Freiheit und Grundrechte religiös motiviert zu relativieren. Warum ist das so? Aus zwei simplen Gründen …

Freiheit ohne Wenn und Aber

Freiheit ist eine Selbstverständlichkeit in Deutschland  im Jahr 2012 – sollte man meinen. Doch verschiedene Diskussionen der letzten Wochen zeigen: Freiheit wird gerne mit einem „Aber“ in Verbindung gebracht. Selbstverständlich gilt die körperliche Unversehrtheit von Kindern. Aber es gibt alte Traditionen, die wir respektieren müssen … Und selbstverständlich gilt die Meinungs- und Kunstfreiheit. Aber muss man denn unbedingt so sehr provozieren, kann man nicht etwas mehr Respekt gegenüber den religiösen Gefühlen der Moslems zeigen …?

Es geht also im Kern um Respekt. Ich finde es schon sehr befremdlich, dass der Respekt als vermeintliche Tugend ins Feld geführt wird, um eine (im wahrsten Sinne des Wortes) Beschneidung von Grundrechten zu rechtfertigen (und um nichts anderes geht es). Dazu Michael Schmidt-Salomon in der ZEIT:

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass diese so freundlich wirkende Haltung diametral gegen die Streitkultur der Aufklärung verstößt, auf der der moderne Rechtsstaat gründet. „Mehr Respekt bitte!“ ist ein Totschlagargument, das jede vernünftige Debatte zum Erliegen bringt. (…) Wie etwa könnten wir aus einer aufklärerischen Perspektive heraus Glaubensüberzeugungen respektieren, die noch immer – im 21. Jahrhundert! – gegen Schwule und Ehebrecherinnen agitieren? Nein, hinter solchem Respekt verbirgt sich meist bloß Ignoranz beziehungsweise Feigheit, die sprichwörtlich geworden ist: Der Klügere gibt nach – was der Dummheit schon häufig zum Sieg verholfen hat.

Warum also wird ausgerechnet in den aktuellen religiös konnotierten Diskussionen dauernd dieser etwas altmodisch anmutende Respekt eingefordert? Wir leben doch in einer modernen, weitgehend säkularen Welt, in der den meisten von uns wenig bis gar nichts heilig ist …

Respekt bitte – denn wir haben Angst!

Jeder darf glauben, was er will, der Islam ist eine Religion von vielen … Und dennoch werden die Rufe nach dem Respekt vor religiösen Gefühlen im Zusammenhang mit dem Islam besonders laut. Warum? Warum erwarten wir nicht ähnlichen Respekt zum Beispiel vor den Zeugen Jehovas, den Bahai oder den Anhängern des Flying Spaghetti Monsters?

Die Antwort ist einfach: Wir haben Angst vor dem Islam. Die Bilder vom Morgenland-Mob, der Flaggen verbrennt und Botschaftspersonal ermordet, machen uns Angst. Gewaltbereite und Gewalt ausübende Anhänger des Propheten Mohammed drohen uns mit Konsequenzen, nicht nur im Nahen Osten, auch vor unserer Haustür. Und spätestens seit dem 11. September 2001 müssen wir diese Drohungen ernst nehmen.

Kurioserweise ist das, was die islamistischen Fanatiker da tun und ankündigen, eine einzige Respektlosigkeit gegenüber allem, was uns wichtig ist. Und wir reagieren darauf – indem wir Respekt einfordern. Das ist nichts anderes als die oben beschriebene Feigheit. Wenn wir nur respektvoll genug sind, geht der Kelch der Gewalt vielleicht an uns vorüber. Ein bisschen Demut zeigen, dann laufen wir nicht Gefahr, zur Zielscheibe zu werden. Es ist doch nicht nötig, auch noch Öl ins Feuer zu gießen …

Die Wirkung einer solch defensiven Haltung auf die religiösen Fanatiker, ist natürlich fatal, die Botschaft eindeutig: Je mehr ihr beleidigt seid, desto mehr nehmen wir Rücksicht auf euch, je mehr ihr auf den Putz haut, desto mehr gehen wir in Deckung. Dabei wäre die gegenteilige Haltung die richtige, nochmal Michael Schmidt-Salomon:

Im Grunde hilft nur eine systematische Desensibilisierung: Wir sollten sie mit so viel Kritik und Satire versorgen, bis sie irgendwann von selbst erkennen, wie irrsinnig es ist, wegen einer harmlosen Zeichnung in die Luft zu gehen oder schlimmer noch: andere in die Luft zu sprengen.

Respekt bitte – denn wir haben Schuldgefühle!

Nicht nur um die Verletzung von Gefühlen, sondern um die Verletzung des Körpers kleiner Jungen geht es beim Thema Beschneidung, die Bundestag und Bundesregierung nun erstaunlicherweise mit breiter Mehrheit legalisieren wollen. Doch während man den Moslems die Verletzung ihrer religiösen Gefühle nicht zumuten will, ist man beim Eingriff in die körperliche Unversehrtheit von Kindern in Deutschland weniger zimperlich. Auch hier wird von Politikern und Meinungsführern Respekt eingefordert – aber nicht etwa, wie ich erwartet hätte, Respekt vor dem Kind, sondern Respekt vor einer „jahrtausendealten Tradition“. Die sehr realen Schmerzen eines kleinen Jungen bei der Amputation seiner Penis-Vorhaut (und alle Folgen, die das nach sich ziehen kann) scheinen weniger bedeutend zu sein als ein archaisch anmutendes kultisches Ritual.

Und während für andere jahrtausendealte blutige (und nicht selten ebenfalls religiös motivierte) Rituale („Auge um Auge“) eher selten Respekt eingefordert wird, scheint dies bei der Beschneidung der Standard-Reflex zu sein: „Wir fordern Respekt für unsere kulturellen und religiösen Traditionen“, so die Initiatoren einer Protestkundgebung jüdischer Organisationen in Berlin. Und ähnlich äußert sich das Zentralkomitee der deutschen Katholiken: „Gerade auch viele Beiträge in der Diskussion um die Beschneidung haben gezeigt, dass mehr Respekt vor der religiösen Identität und Tradition des Judentums notwendig ist.“

Interessanterweise ging es in dieser Diskussion (meiner Wahrnehmung nach) nur am Rande um die Beschneidung muslimischer Jungen, viel deutlicher und lauter meldeten sich jüdische Religionsvertreter zu Wort – und folgerichtig haben wir es auch mit einem anderen Motiv für die defensive, religions-hörige und letztlich anti-aufklärerische Haltung vieler Meinungsmacher in Deutschland zu tun: Wir haben Schuldgefühle.

Niemals würden wir den Zeugen Jehovas, den Bahai oder den Anhängern des Flying Spaghetti Monsters erlauben, Kindern Schmerzen zuzufügen – denn mit ihnen verbindet uns eine andere (oder gar keine) Geschichte. Bei der jüdischen Religion vergessen leider viele, dass beides möglich ist: sich einer historischen Schuld und Verantwortung bewusst zu sein und gleichzeitig ein überkommenes Ritual in Frage zu stellen.

Natürlich hat die Diskussion um die Beschneidung von Kindern in Deutschland im Jahr 2012 nicht das Geringste mit dem Leiden der Juden im Dritten Reich zu tun. Und dennoch gibt es leider Interessensvertreter, die genau diesen Zusammenhang herstellen wie etwa Charlotte Knobloch, die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, die in der Süddeutschen Zeitung allen Ernstes folgenden Beitrag zur Debatte geleistet hat:

Sechzig Jahre lang habe ich als Überlebende der Schoah Deutschland verteidigt. Jetzt frage ich mich, ob das richtig war. Besserwisser schwadronieren beim Thema Beschneidung ungehemmt über „Kinderquälerei“ und „Traumata“. Damit schaffen sie nur eines: Die verschwindend kleine jüdische Existenz in Deutschland infrage zu stellen.

Diese „Argumentation“ ist empörend, da sie jedem, der ernsthafte Argumente gegen eine Beschneidung vorbringt, unterstellt, er würde das vollenden wollen, was den Nationalsozialisten im Dritten Reich nicht gelungen ist: die Juden endgültig aus Deutschland zu vertreiben.

Aber die „Argumentation“ funktioniert. Wer gegen Beschneidung in Deutschland ist, ist gegen Juden in Deutschland, dieses Klischee hat sich inzwischen in der Diskussion festgesetzt und dürfte nicht wenige Politiker zu ihrer Haltung bewogen haben.

Echte Freiheit

Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden, wie Rosa Luxemburg bekanntlich gesagt hat. Andersdenkende dürfen Religionen ignorieren, kritisieren und verspotten, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Und Kinder haben ein Recht darauf, sich zu Andersdenkenden zu entwickeln – ohne dass ihre Eltern schmerzhaft und unumkehrbar an ihrem Körper ein religiöses Exempel statuieren.

Bildnachweis: joakant / pixelio.de

10 Gedanken zu “Religion, Angst und Schuldgefühle

  1. Danke Christian, ein wirklich wichtiger Beitrag zur Diskussion, der den Kern der Problematik triff.
    Die Tage stand ein wirklich seltsamer Kommentar im SZ Feuiletton („Nerv“) der auf der Titanic rumhackt, weil sie angeblich ach so niveaulos sei. U. a. wird in dem Kommentar aber auch Günter Wallraff zitiert, der angeregt haben soll, dass sich mehr Medien an Islam-Karikaturen versuchen sollten, um ein Zeichen für die Freiheitlichkeit unserer Kultur zu statuieren. Es scheint auf den ersten Blick übertrieben, aber angesichts Angst-Argumentation, bin ich fast geneigt, diesen Vorschlag als richtig einzustufen.

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  2. … genau so ist es ! Das verstehen auch unsere Politiker (ok, nicht alle), können/dürfen sich aber trotzdem nicht dieser Klarheit im Denken stellen. Absurd und ungesund …

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  3. Prinzipisch stimme ich dir zu. Insbesondere halte ich „Respekt“ ähnlich wie sehr oft „Stolz“ für eine reaktionäre und in der Tat voraufklärerische Kategorie. Danke dafür also.

    Schade finde ich, dass du die argumentative und Intellektuelle Flughöhe beim zweiten Beispiel verlässt und auf Boulevardniveau absinkst. Zumal die Argumentation die Grenze zum Antijudaismus nicht nur streift. In den Duskussionen um das Beschbeidungsurteil und due Folgen gab und gibt es eben doch – anders als von dir behauptet – eine seriöse und abgewogene Diskussion. Nur hast du die vielleicht nicht mitbekommen.

    Im Kern geht es in dieser Diskussion, auch unter Religionsverächtern und Juristinnen, um die Abwägung von Grundrechten und Rechts- und Freiheitsgütern. Das ist für Menschen, die keine als sehr junger Säugling beschnittenen Männer kennen, vielleicht schwer zu verstehen, zumal du sich ja nichtmal genug damit beschäftigt hast, um zu wissen, dass jüdische und muslimische Beschneidung sehr unterschiedlich sind und zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfinden. Inhaltlich wiederholst du medizinisch nicht haltbare und nicht belegbare Scheinvorwürfe übrigens. Das ist schade.

    Das Problem der reduzierten „Argumentation“ entsteht an der Abgrenzung. Denn es ist keine Religionsfrage sondern eine nach Erziehungsrechten. Wir gaben in Deutschland die Tradition entwickelt (nach zwei gegen Elternrechte sehr übergriffigen Diktaturen), die sehr weit zu definieren und den Eingriff des Staates weit nach hinten zu schieben.

    Mit deiner Argumentation müsste man auch Waldorfschulen verbieten, die m.E. eine seelische Grausamkeit gegenüber Kindern daratellen und ihre Wahlfreiheit nachhaltig einschränken. :)

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    • Wir wollen hier nicht über Religion und deren Verfehlungen in der alten und jüngeren Geschichte, sowie der Gegenwart reden. Mit den Argumenten, die Religionsanhänger vorbringen, können alle Vergehen, die im Namen der Religion begangen werden, schön geredet werden. Es ist eine sinnlose Diskussion. Religiöse Fanatiker verstehen rationale Argumente einfach nicht. Sie bleiben gefangen in ihrer Schleife, die sie wieder und wieder drehen. Wir erleben in dieser Diskussion sozialwissenschaftlich betrachtet derzeit eine Zunahme der Entropie (gleichzusetzen mit der Unfähigkeit des Systems [= Religion] sich zu verändern), was ansich als negativ angesehen werden könnte – aber letztlich hat es auch einen positiven Charakter: entropische Systeme sind in ihrem Endstadium einfach tot. Das hat doch was. :-)

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    • Wolfgang, ich lese regelmäßig deinen Blog, teile nicht alle deine Ansichten, schätze aber deine Meinung und dein oft pointiertes Urteil – daher habe ich mir deine Kritik auch zu Herzen genommen und meine Äußerungen gerade zum Thema Bescheidung nochmal kritisch gelesen. Ergebnis: Ja ich spitze zu, was zu Lasten mancher Differenzierung geht. Aber du haust mit Unterstellungen nur so um dich, was für eine differenzierte Betrachtung auch nicht wirklich hilfreich ist.

      Du unterstellst mir zum Beispiel mangelnde Beschäftigung mit dem Thema. Na ja. Seit dem Kölner Urteil gibt es kaum ein Thema, mit dem ich mich in letzter Zeit intensiver beschäftigt habe, nur stelle ich nicht alles Aspekte der Diskussion in meinem Beitrag dar. Mir geht es um die Frage, warum manche (nicht alle) gerade eine ernsthafte Diskussion verweigern und sich reflexhaft auf religiöse Tradition berufen (bis hin zur Bundeskanzlerin, die ja mal eben flott gesagt hat, das uns so eine Diskussion zur „Komiker-Nation“ machen würde). Zu diesem Thema gab es übrigens auch schon mal einen Beitrag hier im Blog: https://buggisch.wordpress.com/2012/07/16/beschneidung-und-indoktrination/

      Ich bin übrigens weder Jurist noch Religionsverächter noch Antijudaist, aber du weißt natürlich, dass du da mir grobem Schrot und breiter Streuung feuerst.

      Und kein Arzt. Trotzdem habe ich auch nicht wenige medizinische Beiträge zur Beschneidung zur Kenntnis genommen. „Medizinisch nicht haltbare und nicht belegbare Scheinvorwürfe“ ist starker Tobak und in jedem Fall einseitiger und boulevardesker als das, was ich schreibe. Ich erspare uns hier Ausführungen über das Schmerzempfinden von Säuglingen, die angeblichen medizinischen Vorteile von Beschneidungen, die Risken nicht fachgerecht durchgeführter Beschneidungen, Komplikationen und Folgewirkungen dieses Eingriffs, Auswirkungen auf Psyche und Sexualleben etc. Das tut auch alles nichts zur Sache, denn dass es sich um einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes und de jure eine Körperverletzung handelt, steht ja wohl außer Frage. Anders als du meinst bin ich bei diesem Thema übrigens auch persönlich betroffen, zwei unserer Kinder mussten sich leider (aus medizinischen Gründen) diesem Eingriff unterziehen. Ich sehe das pragmatisch und dramatisiere nichts, aber für eine Verharmlosung dieses Eingriffs gibt es wirklich nicht den geringsten Anlass.

      Der Aspekt Erziehungsrechte ist interessant, aber du weißt, dass der Staat an vielen Stellen und aus meiner Sicht berechtigterweise in die Erziehung eingreift, von der Schulpflicht bis zum „Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung“.

      Du schreibst zu Recht, dass es letztlich um eine Güterabwägung geht. Zu welchem Ergebnis genau kommst du bei dieser Abwägung? Diese Aussage fehlt mir in deinem Kommentar. Vielleicht hast du einen konkreten Lösungsvorschlag? Meiner ist: Beschneidung auch aus religiösen Gründen – ja gerne! Aber bitte selbstbestimmt jeder für sich. Sobald das Kind nicht mehr Kind, sondern erwachsen ist, kann es sich gerne für oder gegen diesen Eingriff entscheiden. Das bedeutet für Judentum und Islam ein Umdenken und ein Abschied (oder eigentlich nur eine Anpassung) von Tradition, aber das ist ja per se nichts Schlechtes.

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  4. @Christian Buggisch: Sehr gut, soll doch jeder Hand an sich selber legen, wie er mag. So wie anno dunnemals der olle Origines wg. Matthäus 19.12. Und alle anderen mit der Auslegung offenbarter Schriften zumindest körperlich verschonen.

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