Fröhliches Fremdschämen bei Siemens

Was ist der Traum jedes Marketing-Menschen? Ein Video über das eigene Unternehmen, das im Web viral so richtig abgeht. Und was ist der Alptraum jedes Marketing-Menschen? Ein Video über das eigene Unternehmen, das im Web viral so richtig abgeht. Für Siemens ging der (Alp-)Traum jetzt in Erfüllung …

Der Hintergrund ist schnell erzählt: Siemens ist in meiner Heimatstadt Erlangen ein großer Arbeitgeber und Medizintechnik eine der wichtigsten Siemens-Sparten in der Stadt. Weil Siemens total modern und international ausgerichtet ist, heißt die Medizintechnik natürlich schon lange nicht mehr Medizintechnik, sondern Healthcare. Daran hat man sich gewöhnt. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der normale Siemensianer in Erlangen exakt so modern und hip und fancy ist, wie ein Mittelfranke das nun mal ist. Und das meine ich nicht böse, im Gegenteil. Ich bin ja auch so einer (Mittelfranke, nicht Siemensianer). Der normale Siemensianer in Erlangen hat Familie, ein Reihenmittelhaus, fährt mit dem Rad zur Arbeit, und wenn er mal so richtig die Sau rauslassen will, dreht er eine Runde im Riesenrad auf der Bergkirchweih.

Der normale Siemensianer in Erlangen ist außerdem einigermaßen verunsichert, um nicht zu sagen frustriert, denn sein Arbeitgeber strukturiert sich seit Jahren um (erst von links nach rechts, dann wieder zurück, dann geht’s von vorne los) und baut Stellen ab.

Mittelfranke trifft auf Marketing

Was nun passiert, wenn der normale Erlanger Siemensianer auf die Ideen der sehr modernen und hippen Fancy Global Marketing and Firlefanz-Abteilung trifft, ist in einem Video zu bewundern, das letzte Woche auf einem Siemens-Betriebsfest aufgenommen wurde – und das inzwischen mit einer halben Millionen Aufrufen eine Reichweite hat, von der die meisten Siemens-Videos nur träumen können (von Siemens-Betriebsfest-Videos mal ganz zu schweigen).

Im Vordergrund das Publikum, der mittelfränkische Siemens-Mitarbeiter. Im Hintergrund eine Bühne mit Performance. Die Diskrepanz zwischen Hyperaktivität auf der Bühne und Ratlosigkeit im Publikum ist frappierend. Irgendwie will der Funke nicht so recht überspringen. Kein Wunder, denn der Head of Fancy Global Marketing hat beschlossen, zwölf Menschen auf der Bühne in bunte Ganzkörper-Kondome zu stecken und wie Spermien auf der Suche nach der Eizelle aufgeregt hin und her hüpfen zu lassen. Gegenüber den bunten Menschen haben Spermien einen gewaltigen Vorteil: Sie halten die Klappe. Die bunten Menschen hingegen, die ein wenig auch an appetitlose Teletubbbies auf Speed erinnern, singen. Und singen fürs Marketing ist ja immer schwierig, hab ich vor drei Jahren schon geschrieben.

Kellerbier, Healthineer?

Doch damit nicht genug: Sie singen den neuen Markennamen der Medizintechnik-Sparte von Siemens von Siemens Healthcare: Siemens Healthineers. Wow, ein“th“ umzingelt von rätselhaften Vokalen. Bedeutung unbekannt, wie das bei Kunstworten so ist. Das ist ja der Charme der guten alten „Medizintechnik“: Da hat jeder sofort ein MRT vor Augen, einerseits Hightech, andererseits Klackklackklack, Ratterratter. Aber „Healthineer“? Tut das weh? Kann man das essen? Kellerbier, Wurmgetier, Schrankscharnier, Healthineer? Da assoziiert gar nichts.

Aber egal, Hauptsache der Mittelfranke versteht, dass er jetzt ein Healthineer ist. Und was macht man, damit er’s versteht? Genau: Karaoke. Noch so eine geniale Idee, ausgebrütet in den Fancy Global Marketing Innovation Labs von Siemens. Was bei den Kids vor der PlayStation gut ankommt, muss doch auch auf einem Siemens-Betriebsfest funktionieren! Und so liest der Mittelfranke an einer gigantischen Videowall, was er mitsingen soll:

We are, we are, we are Healthineers …

Und dann:

Oho, oho … Oho, oho …

Nun ja. Da geht die Party ab, kann man sich vorstellen.

Ach ja, das Video. Viel Spaß damit:

[Anmerkung, 12.05.: Das ursprüngliche Video wurde inzwischen gelöscht – wäre interessant zu erfahren, von wem und warum. Aber es gibt noch eine zweite Fassung …]

 

22 Gedanken zu “Fröhliches Fremdschämen bei Siemens

  1. …besonders „bemerkenswert“ an der Sache ist auch noch, dass das rund 2 stündige „Event“ einen Bühnenaufbau wie ein AC/DC-Konzert erfordert zu haben scheint, es zudem mitten in einem reinen Wohngebiet mit rund 4.000 Einwohnern auf einer Fläche von mehreren tausend Quadratmetern stattfand und durch rund 14 Tage Auf- und Abbauzeit (mit vielleicht 10 Mann Wachdienst rund um die Uhr) die halbe Infrastruktur lahmgelegt hat! Das kann und darf in Erlangen nur Siemens Healthemployeer? (…healthpsychodexteer?, …healthymoney?, …happylawyeer?)

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  2. Perfekt. Ich bin zutiefst beeindruckt.

    Jede Zelle meines Körpers ist glücklich – weder Erlanger, noch Mittelfranke, noch Healthineers, noch Siemensianer zu sein.
    Da bleibt umso mehr pure gehässiges Amusement über dieses Video.

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      • Nun ja: Gerade der Zugreiste (ich bin auch so einer) genießt das Privileg, aus der Distanz heraus süffisante Bemerkungen über die Wesensarten der ursprünglich heimischen Bevölkerung (nennen wir sie ruhig Eingeborene) zu machen.
        So quittiert das eben der bisweilen als „Saupreiß“ beschimpfte Westfale (nämlich ich) dem bajuwarischem Gemüte, derweil er auf bisweilen befremdlich anmutenden Großveranstaltungen tischtanzende Hiesige und verkleidete alkoholisierte Auswärtige beobachtet. :)

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  3. Dann helfe ich einfach mal. Healthcare + Pioneer + Engineer = Healthineer
    Das Karaoke, Ausrasten und Tanzen in Erlangen – Franken – Bayern – Deutschland nicht wirklich funktioniert, hätte eigentlich klar sein müssen. Da hätte man dieses Event in die USA verlegen müssen und schon hätte man die gewünschten Bilder gehabt. Wieso also hat hier keiner mal „gestoppt“? Marketingabteilung = Karrieresprungbrett. Ergo, man widerspricht dem/der Chef(in) nicht sondern nickt alles brav ab und Beglückwünscht den Entschluß.
    Und die Anwohner, sorry, sollten Kummer gewöhnt sein. Ruhig ist es dort nie, eng sowieso, die paar Tage waren wohl mal auszuhalten.
    Fazit: Es ist doch „nur“ ein Name, wozu der ganze Wind? Deswegen sind die Geräte trotzdem Weltklasse! Die Mitarbeiter heißen nur anders, sie liefern weiter gewohnt ihre gute Arbeit ab.

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  4. Ich schäme mich so. Dabei bin ich weder aus Mittelfranken noch bei Siemens. Die armen Studenten da auf der Bühne. Hatte die Jobvermittlung an der Uni nichts mehr bei ner Möbelspedition oder im Kanalbau?

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  5. Na, da zieh ich mir doch lieber ne neon-grüne Krawatte um! ;)

    Als „Weg-gereister“ (ging ja seinerzeit in Erlangen auf die Schule) muss ich auch sagen, dass da wohl jemand das Publikum einfach nicht gekannt hat – was aber nicht sonderlich selten ist. Gerade US-Marketing entwickelt gerne lange und in mühevoller Kleinstarbeit Slogans und Claims, nur um dann festzustellen, dass die sich nicht in andere Sprachen übersetzen lassen. Wobei das mit dem „Healthineer“ schon noch ein ganz anderes Level hat…

    Aber meine Vorhersage für die Zukunft: noch mehr blöde (Employer-)Branding-Maßnahmen, noch mehr Geld für Marketing-Abteilungen und -Agenturen, noch mehr Geld für die bunte Truppe aus dem Fetisch-Club – dafür wird aber das Filmen auf Betriebsfesten verboten…

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      • Als Mitarbeiter einer PR-Agentur bin ich ja generell der Meinung, dass Marketing-Budgets sowieso schon viel zu groß sind und die mal lieber mehr Geld an die geben sollten, die die richtig wichtige Arbeit machen (d.h. an uns…) ;)

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  6. Es wäre sicherlich besser gewesen dieses (sicherlich nicht unerhebliche) Budget einer medizinischen Institution in Erlangen zu spenden, die damit was sinnvolles und nachhaltiges tut – z.B. der Stammzellbank des UK Erlangen, die damit Menschenleben vor der Leukämie rettet. Eine bessere Werbung und PR für Medizintechnik gibt es nicht.

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  7. Wir machen uns die Welt, so wie sie uns gefällt.
    Dumm nur, wenn es immer weniger Menschen nachvollziehen können, was sich Marketingspezialisten so einfallen lassen.

    Das gilt nicht nur für diese Unternehmensveranstaltung, sondern auch für öffentliche Werbung.

    Mein Finanzdienstleister hat sich wenigstens ein Fußballstadion und Helene Fischer gemietet. Viele Vermögensberater schwärmen heute noch davon. Ob das den Kunden hilft ist zweitrangig.

    Und was erwertatet sich der Medizintechnikhersteller von der Aktion?

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  8. … DER Aufwand für DIESE Darbietung ist erschütternd. Leider legt so ein fieser Selbstvermarktungsflop einen Rückschluß auf die Unternehmenskultur nahe …. wirkt befremdend und die Mitarbeiter/Zuschauer sind auch zurückhaltend-verwundert. Finster!
    Inszenierte Botschaftsbeliebigkeit bestimmt in Bezug zu irgendwas. Deprimierende Motivationssuche, – dann doch lieber eine zünftige Autohauseröffnung mit Heino-Double ; -)

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  9. Ich war dabei und muss sagen, auch als Zugezogener passt der Artikel gut.
    Man kann darüber denken, was man will, und weder meine Arbeitsqualität, noch meine Identität wird sich hierdurch verändern.
    Worüber ich aber auf jeden Fall wirklich schockiert war – Was man wirklich auf keinen Fall machen darf – was überhaupt gar nicht geht, ist: So eine Bühne/Setting aufzubauen und dann kein geiles Konzert abzuhalten!!! Man muss ja nicht gleich U2 oder ACDC engagieren – eine einigermaßen fitte Coverband aus Erlangen hätte auch gereicht.
    Aber den ganzen Aufwand für nichts, als diesen (peinlichen) Song, empfinde ich zutiefst demoralisierend.
    Der (vermutlich erhoffte) massendynamische Effekt einer jubelnden Menge für die akzeptanz des neuen Namens blieb natürlich aus. Was bleibt ist eine Mischung aus fadem Geschmack und einer Bestätigung des sowieso schon existierenden Gefühls, dass man als Entwicklungsingenieur – äh verzeihung – Healthineer, nichts auf das regelmäßige Kasperletheater der Marketingabteilungen geben darf.

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  10. Interesssant dass das Orginalvideo gelöscht wurde (auf Druck von Siemens? – ich habe mir nun mal zur Sicherheit ne Kopie von dem aktuell noch verfügbaren Video gezogen – für den Fall dass Siemens das auch noch löschen laesst).

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  11. Das obere/mittlere Siemens-Management hat hier lediglich all das Know-how in die Wagschale geworfen, das man sich im Laufe der Jahre in diversen Managerseminaren und Outdoor-Motivationscamps angeeignet hat. Als leidgeprüfter Siemensmitarbeiter muss man feststellen: Ja, genau so eine Veranstaltung war zu erwarten, Punktlandung, keine Überraschung.
    Die Videobeiträge im Siemens-Intranet sind auch nicht besser aber meistens unfreiwillig komisch, sie helfen oft über den Schmerz hinweg, den wir durch den Tod von Dieter Hildebrandt, Stan Laurel und Oliver Hardy erlitten haben.
    Die Wortschöpfung „Healthineer“ steht in guter Tradition mit vielen anderen Wortschöpfungen, die wir in den letzten Jahren gelernt haben, da macht die Amerikanisierung auch schon einmal vor dem Namen des Vorstandsvorsitzenden nicht halt – vielleicht sollte er sich jetzt analog Joe Kaesineer nennen?
    Die Frage, was das Siemens-Management mit solchen Veranstaltungen oder Videobotschaften bei seinen Mitarbeitern bewirken will ist schnell und einfach beantwortet: Nichts. Alles, was ein Siemens-Manager macht, ist an seine Vorgesetzten adressiert, er will nur sie beeindrucken, die Mitarbeiter sind ihm egal. Nur so kann man bei Siemens Karriere machen.
    Ich hole mir jetzt erst einmal Three-in-a-roll beim Grillineer.

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