Was Köln aus Kommunikationssicht interessant macht

Gestern ärgerte ich mich, dass das neue Jahr nur zwei Tage alt werden musste, um die erste Erregungswelle rund um den Polizeieinsatz in Köln, „Nafri“ und „Racial Profiling“ durchs Social Web zu treiben. Heute kann ich dem Fall aus Kommunikationssicht mehr abgewinnen und finde, er setzt interessante Akzente fürs restliche Jahr …

Streiten wir also mal kurz nicht über Begriffe, die bis gestern den meisten von uns noch völlig unbekannt waren. Und machen wir auch kurz alle Schubladen zu und verzichten darauf, die Polizei in die mit der Aufschrift „Rassismus“ und die Linken in die mit der Aufschrift „Gutmenschen“ zu packen. Dafür ist später wieder Gelegenheit (aber bitte nicht hier in den Kommentaren).

Folgendes finde ich also an der ganzen Sache interessant:

Politische Kommunikation im Wahljahr

Irgendetwas passiert und irgendjemand postet eine besonders steile These dazu, mit der er garantiert Widerspruch auslöst. Die Mechanik des Social Web erledigt den Rest: Aufregung, Empörung, Eskalation. Bisher war es das kommunikative Erfolgsmodell von AfD & Co: ein Aufregungs-Stöckchen hinhalten und alle springen drüber. So haben Tweets und Facebook-Posts von einer Frau von Storch Reichweiten erzielt, die innerhalb der Kern-Zielgruppe niemals möglich wären, inklusive Verlängerung über klassische Medien, die den digitalen Zwist irgendwann aufgreifen.

Mal schauen, ob das im Wahljahr 2017 ein Muster für alle Parteien wird, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. In diesem Fall weniger Simone Peter von den Grünen, sondern vor allem Christoph Lauer von der SPD (wo er mit seiner Position ziemlich einsam ist). Seine Tweets zum Thema dienten eindeutig zum Befeuern der Provokation. Und da das Web für ihn definitiv kein Neuland ist, können wir davon ausgehen, dass das Ganze ein bewusstes Experiment war. Letztlich erfolgreich, denn die Republik redet nicht über ein weitgehend kriminalitätsfreies Silvester in Köln, sondern diskutiert über zu viel Sicherheit vs. zu wenig Freiheit, also ein klassisches linkes Thema. Agenda Setting erfolgreich.

Behörden-Kommunikation in sozialen Medien

Das dürfte der erste Fall sein, bei dem ein Polizei-Tweet als Grundlage für einen kleinen Shitstorm dient oder genauer gesagt: ein eigentlich erfolgreicher Polizeieinsatz durch ein Wort in einem Tweet beschädigt wird. Bislang waren die Twitter-Accounts der deutschen Polizei ja ein einziges Erfolgsmodell, man erinnere sich nur an den extrem professionellen und gelungenen Einsatz von Twitter durch die Polizei beim Amoklauf in München: Polizei-Tweets als verlässlicher Fels in der Brandung, während drumherum die Spekulationen tobten.

Dass dem Polizei-Twitterer der Begriff „Nafri“ mehr oder weniger durchgerutscht ist, ist verständlich, denn offensichtlich ist er im internen Sprachgebrauch üblich, im externen jedoch nicht, so muss man jedenfalls den Polizeipräsidenten verstehen, der sich für die Verwendung des Begriffs bei Twitter entschuldigt hat.

Die Polizei ist mit ihren Twitter-Aktivitäten relativ spät dran und macht jetzt exakt die gleiche Lernkurve durch wie viele Unternehmen, die ebenfalls nach und nach Kommunikation im Social Web lernen mussten. Vorteil der Polizei: Sie zieht das Ganze jetzt schon sehr professionell auf und profitiert von vielen Erfahrungen anderer. Nachteil: Sie agiert auf der größtmöglichen Bühne mit maximaler Aufmerksamkeit, während mancher Unternehmens-Shitstorm mangels öffentlichem Interesse schnell wieder in sich zusammengesunken ist.

Renaissance des guten alten Journalismus?

Ich fand es extrem wohltuend, heute morgen die sehr nüchternen und unaufgeregten Kommentare zum Thema in verschiedenen Zeitungen, etwa der Süddeutschen Zeitung zu lesen. Sie unterschieden sich in ihrer Betriebstemperatur deutlich von vielen Äußerungen gestern, sowohl in sozialen Medien als auch in vielen Onlinemedien. Gestern ging es offenbar um Geschwindigkeit, Likes und Klicks, und der Brennstoff dafür ist nun mal Polarisierung. Heute haben die „klassischen“ Medien (oder zumindest einige von ihnen) die Ereignisse ordentlich einsortiert und bewertet.

Als Leser und politisch Interessierter kann man fürs restliche Jahr daraus lernen: Einfach mal abwarten. Nicht gleich den erstbesten Artikel teilen, hinter dem vielleicht die schnellste, aber sicher nicht die beste Redaktion steckt. Nicht gleich mitdiskutieren. Einfach mal die Klappe halten. Und am nächsten Tag verlässliche Quellen bemühen.

(Ist natürlich Wunschdenken, ich weiß.)

Quellen: Christopher Lauer zweimal auf Twitter, Polizei NRW auf Twitter.

5 Gedanken zu “Was Köln aus Kommunikationssicht interessant macht

  1. Guter, unaufgeregter Kommentar! Danke.

    Offensichtlich scheinen wir Menschen uns in der digitalen Beschleunigungsmaschine nur noch so wenig selbst zu spüren, dass wir ständig hyperventilierend sabbeln und nach Resonanz geifern müssen. Ich twittere also bin ich.

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  2. Mir kam das Ganze auch wie ein Spiel vor. Allerdings ein ziemliches schlechtes, bei dem es weder strahlende Gewinner noch echte Verlierer gibt. Blödsinniges Geplänkel um den ewig gleichen Brei. Es hinterlässt nichts weiter als ein Gefühl der gähnenden Leere.

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  3. … zu Lauer würde ich gerne ein Gedicht schreiben. Noch lieber ein psychiatrisches Gutachten! Beides würde in mir aber Gefühle erwecken, die ich lieber schlafen lassen möchte. Was für ein kapitaler Nichtsnutz mit der Lizenz zum Fremdscham auslösen …

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