Tod mit Ansage

Meine Freundin wird sterben.

Es ist wieder einmal dieser verfluchte Krebs. Zuletzt sah es noch gut aus. Eine Transplantation als Hoffnungsschimmer, die Vorbereitungen dafür im November, dann Funkstille. Anfang Januar die Nachricht: Der Krebs ist zu weit fortgeschritten, keine Transplantation. Sie stirbt.

Es gibt ja verschiedene Arten von Freundschaften. Etwa diejenigen, die durch regelmäßigen Kontakt bestätigt werden, weil man in der gleichen Stadt lebt, sich oft sieht und gemeinsam etwas unternimmt. Oder diejenigen, die über die Entfernung funktionieren, ein Treffen alle paar Jahre, dazwischen nur loser Kontakt, und dennoch eine enge Verbindung, weil man gemeinsam etwas erlebt hat, das prägend war. Unser Erlebnis ist Jahrzehnte her und hat eine Freundschaft begründet, die ein Leben lang halten sollte. Wir konnten nur nicht ahnen, dass das Leben so kurz sein wird.

Eine Freundschaft wie ein Weg, der an einem mäandernden Bach entlangführt: mal links davon, mal rechts davon, immer wieder weit ausholend, ihn aus den Augen verlierend, und doch ihn mit schöner Regelmäßigkeit kreuzend. Wenn wir uns alle paar Jahre an diesen Kreuzungspunkten begegneten (zusammen mit anderen Freunden, die die gleichen Erlebnisse teilen), war das, als hätten wir uns vielleicht ein paar Tage nicht gesehen.

Und nun also: das Ende in Sicht. Die Nachricht ein Schock, weil eine kleine Welt zusammenbricht, weil man seit November nüchtern Wahrscheinlichkeiten kalkulierend damit hätte rechnen müssen, aber diesen Gedanken nicht zugelassen hat.

Und nun? Eine Sterbende anrufen und sich am Telefon verabschieden, weil es das letzte Gespräch sein könnte? Und wenn ja, um Himmels Willen, mit welchen Worten? Oder ein letztes Treffen vereinbaren, versuchen, dem Tod zuvor zu kommen? Will sie das? Will ich das?

Im Nachhinein sind die Gedanken lächerlich, aber der Moment, in dem ich ihre Nummer wählte und kurz darauf ihre Stimme hörte, war einer der schwersten meines Lebens. Doch wie so oft malen wir uns die Wirklichkeit schlimmer aus, als sie dann ist. Es war ein gutes Gespräch, sie war erkennbar angeschlagen, aber immer noch die Alte. Wann immer wir uns begegneten, war sie lebensfroh und von ansteckender Herzlichkeit, und davon hatte sie sich auch den Tod vor Augen so viel bewahrt, dass für Trauer kein Raum blieb.

„Ich möchte dich lieber noch einmal lebend sehen, als zu deiner Beerdigung zu kommen.“ Sätze aus dem Absurditäten-Kabinett des Lebens. Wir vereinbarten ein Treffen für die kommende Woche und verabschiedeten uns. Sie voller Pläne für die nächsten Tage, was alles noch zu organisieren sei, von der Patientenverfügung bis zur Trauerfeier. Ich mit der Hoffnung auf eine letzte Begegnung und der Angst, dem Tod könnten Hoffnungen egal sein.

Eine Woche später, an einem eiskalten Wintermorgen, machte ich mich auf den Weg. Verspätete Züge, zu lange Wartezeiten an Bahnhöfen – alles nebensächlich, alles egal. Eine Zugfahrt durch eine einsame, verschneite Winterlandschaft, die reichlich Raum bot für Erinnerungen. Ankunft in ihrer Stadt, S-Bahn, Wohnungstür, klingeln, und da sind wir. Nicht allein, es sind noch weitere Freunde gekommen.

Es wurden schöne, fast schon unbeschwerte Stunden. Natürlich haben wir über die Krankheit geredet, aber vor allem über gemeinsame Zeiten und Erinnerungen.

Es war wie immer: Obwohl wir uns seit Jahren nicht gesehen hatten, war sofort die alte Vertrautheit wieder da, als wäre man nur mal eben beim Bäcker um die Ecke gewesen und nun wieder zurück. Es war nicht wie immer: Sie war ein unglaublich energiegeladener, funkensprühender Mensch, voller Tatendrang. Viel davon hat ihr die Krankheit geraubt. Ihr Wille, ihr Humor, ihr Interesse, ihre Warmherzigkeit sind noch da, aber die Kraft fehlt. Sie hält sich tapfer, es ist unglaublich, dass sie immer noch Fröhlichkeit ausstrahlt und Pläne macht und ihr Leben so gut wie möglich im Griff hat statt – aufzugeben, zu resignieren, die Ungerechtigkeit dieser Welt zu verfluchen, was auch immer.

Sie wird sterben, aber das spielt keine Rolle während des Besuchs. Bis zum Abschied. Dann spielt es eine Rolle, denn es ist der letzte Abschied, die letzte Umarmung, die letzte Wärme, der letzte Blick, der letzte wortlose Trost, denn mit welchen Worten soll man den Tränen begegnen?

Der Heimweg ist leer, kalt und funktional. Für Trauer ist zwischen Sitzplatzsuche, Fahrkartenkontrolle und Bahndurchsagen wenig Platz. Während es draußen dunkel wird, kreisen die Gedanken um Leben und Tod. Es sei ein Segen, dass man den Zeitpunkt des eigenen Todes nicht kennt, sagt man für gewöhnlich. Ich sehe das inzwischen anders. Es ist ein Segen, sich ein letztes Mal treffen und verabschieden zu können.

Meine Freundin ist gestorben.

Nur zwei Tage nach meinem Besuch und ein halbes Leben zu früh.

 

25 Gedanken zu “Tod mit Ansage

  1. Die Zeilen berühren mich sehr und erinnern mich an die Wochen im letzten Jahr, in denen ich mich vom besten SchwieVa von allen verabschieden musste. Ich wusste auch nicht so richtig, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Wie angemessen reagieren, wie nur nichts falsch machen. Kann man vorher im Kopf durchspielen. Nützt nur nix. Letztlich hat das Herz vor Ort geholfen.
    Für Deinen Verlust: Herzliches Beileid.
    Für den Text: Herzlichen Dank.

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  2. Vielen Dank für diesen Beitrag, der gut ausdrückt, was man in dieser Situation empfindet. Auch ich musste viel zu früh von einer Studienkollegin Abschied nehmen und bin sehr froh, dass ich sie vor ihrem Tod noch einmal besuchen konnte.

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  3. Schön, dass Zeit für einen solchen Abschied blieb. Mein Beileid zum Verlust der Freundin. Ich habe Ähnliches erlebt. 2011 bekam mein Chef und Mentor an einem Donnerstag die Diagnose Blutkrebs – mit einer Lebenserwartung von nur noch drei Wochen. Auch da stellte sich die Frage: was tun? Am Freitag stellte er eine Liste auf: mit Menschen, die er noch einmal sehen wollte. Im Gespräch wuchs diese dann noch an. Danach stand mir die härteste meiner bisherigen Aufgaben bevor. Ich informierte über das Wochenende diese Freunde, Geschäftspartner und Bekannten über die Situation und lud sie ein, Abschied zu nehmen: von Montag bis Freitag war am Nachmittag für drei Stunden „Open House“. Er hatte sich im eingedeckten Konferenzraum niedergelassen und so befremdet manche waren, kamen doch bis auf zwei in dieser Woche doch alle, tranken Kaffee und aßen Kuchen mit ihm. Die Besucher gingen so, wie es auch in diesem Text beschrieben ist: erleichtert und sogar glücklich ob der letzten, positiven Erinnerungen. Er war kein Freund der Abschiede, deshalb begleitet ich die Besucher hinaus. An der Tür stellten manche, weil er so lebendig und glücklich wirkte, sogar den Anlass in Frage. Es wurde an diesen fünf Tagen viel gelacht und der Anlass verband vom Vorstandsvorsitzenden bis zum Musiker die Anwesenden in der Wärme einer Atmosphäre, die von Respekt und Zuneigung gekennzeichnet war. Viele entdeckten in den Erzählungen der anderen Facetten eines außergewöhnlichen Menschen, den sie so noch nicht kannten. Die Kräfte ließen danach schnell nach, die Prognose erwies sich als richtig. Aber ihm war dank des Tabubruchs eine Woche beschert, in der er selbst erleben durfte, wie viele Leben er positiv beeinflusst hat.

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  4. Es sind einfach zu viele – und es werden immer mehr, die „ein halbes Leben zu früh“ (was eine großartige Formulierung) an Krebs oder anderen Krakheiten sterben.
    Ich denke, das kennen die meisten von uns. Es muss gleichermaßen schwer gewesen sein und doch gut getan haben, das so runterzuschreiben – Danke dafür.

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    • Es stimmt, dass immer mehr an Krebs *erkranken*.
      Das mag an Faktoren liegen wie
      – Menschen werden im Durchschnitt älter
      – Menschen werden im Durchschnitt größer (Wachstumsfaktoren spielen eine gewisse Rolle bei der Bestimmung des Krebsrisikos bestimmter Krebsarten)
      – Lebenstil/-gewohnheiten: Rauchen, krebsrisikofördernde Ernährung, mangelnde Bewegung

      Die gute Nachricht, und zwar eine eindeutige ist, dass heute etwa 2/3 der Krebspatienten in Deutschland und Ländern mit ähnlichem allgemeinen Gesundheitssystem langfristig überleben, mehr als die Hälfte der Patienten wird sogar vom Krebs geheilt. Vor vier Jahrzehnten überlebte etwa nur 1/4 der Patient langfristig.

      Eindeutig und gesichert:
      Es sterben immer weniger Menschen an Krebs und viele leben davon leben bedeutend länger als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dies gilt für alle Krebsarten zusammen.

      Das ist Statistik. Natürlich gibt es da eine große Variation einzelner Krebsarten: Manche haben noch keine so gute Prognose. Und besonders schwere Fälle gibt es auch immer wieder bei den Krebsen, die prinzipiell auch heilbar sind. Daran arbeitet die Forschung, und in manchen Bereichen geht es langsamer als man es wünschte, in manchen Bereichen gibt es aber auch erfreulichen Sprünge zum Besseren.

      Es gibt aber auch eine natürliche Wahrnehmungsverschiebung, ein natürliches Wahrnehmungsungleichgewicht:
      Es brennt sich im Gedächtnis natürlich viel mehr ein, wenn man in seinem Umfeld erlebt, dass mehrere Menschen nacheinander oder gleichzeitig an Krebs erkrankt sind und manche davon sterben, besonders wenn es einen Nahestehenden betrifft. Man registriert aber viel weniger oder vergisst nach und nach, wenn Menschen geheilt werden oder lange ohne größere Probleme mit dem Krebs leben. Das geht im großen Rauschen unter, und der Eindruck bleibt, dass die Zahl der Krebsfälle zunimmt. (Daraus kann man lernen, dass die Hilfswissenschaft der Statistik hilft, Wahrnehmungsverschiebungen, -ungleichgewichte zu entzerren).

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  5. Jetzt hab‘ ich richtig einen Kloß im Hals. Ein sehr bewegender Text. Es ist ganz furchtbar schwer, mit dem Tod umzugehen, und wir drängen das irgendwie immer weg von uns. Bloß manchmal geht das eben nicht. Und dann zeigt sich, ob wir der Natur offen und tapfer ins Auge sehen, oder ob wir uns verstecken—zu Hause, hinter Floskeln. Ich bin beeindruckt, wie Du und Deine Freundin das angegangen sind, und ich bin sehr traurig über Deinen Verlust. Aber Du wirst Dich wohl ein Leben lang an sie erinnern, und daran, dass Du Dich in den Zug gesetzt hast um sie ein letztes Mal zu treffen.

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  6. Beileid und Glückwunsch Christian. Ich hatte Ende letzten Jahres eine ähnliche Situation. Solch ein Abschied ist ein Geschenk. Und für einen selbst, der /die zurückbleibt, ein bizarres und unglaubliches Erlebnis.

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  7. Ergänzend: In seinem Buch „Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers“ schreibt Wilhelm Schmid unter anderem von seiner Begegnung mit einer Krebs-Patentin und ihrer wechselseitigen Beziehung bis zu ihrem Abschied.

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  8. Ich habe vor knapp zwei Jahren etwas ähnliches erlebt, nur dass die Freundin so plötzlich ins Koma gestürzt ist, dass wir keinen gegenseitigen Abschied mehr hatten. Ich habe sie nur im Hospiz besuchen können, als sie schon nicht mehr ansprechbar war.

    Umso mehr freut es mich, dass Ihr Gelegenheit für ein letztes richtiges Treffen hattet, das ist etwas sehr Kostbares.

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  9. Danke, für deinen emotionalen Einblick in dein Leben. Ich habe gerade Tränen in den Augen und einen Kloß im Hals. Ein schöner Text und eine schöne Erinnerung an deine Freundin. Schön, dass du es noch geschafft hast, sie Live zu sehen und dich verabschieden konntest.

    Lg Mel

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  10. Ich verneige mich davor, mit derart offenem Visier sein Erleben zu teilen.
    Und das in einem Thema mit dem wir alle so unsere Herausforderung haben.
    Ein schönes letztes Treffen liegt sicher abgelegt in der Seele, wünsche ich mir für meine Freunde(innen) die gehen müssen auch so !

    Danke

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  11. Mein herzliches Beileid zuvor!
    Ein sehr berührender und beeindruckender Text, der einen nachdenklich und mit einem Kloß im Hals zurückläßt.

    Tod, Krebs – das sind für viele Menschen geradezu Tabus, die sprachlos machen können. Man weiß vielleicht nicht, wie man damit umgehen soll, mit der Situation, den starken Gefühlen, die es wahrscheinlich auslösen kann, sowohl beim Gegenüber als auch bei einem selbst. Man rechnet vielleicht mit einem schwachen oder erschreckenden Erscheinungsbild eines Menschen, den man doch am liebsten als möglichst gesund, blühend, in Erinnerung behalten möchte.

    Viele Menschen wagen nicht, über diese Schwelle der Angst und des Zweifelns zu treten (und niemanden soll deswegen irgendein Vorwurf treffen)! Schwerkranke und Sterbende brauchen aber eben auch oft die Kraft der menschlichen Teil- und Anteilnahme.

    Wer vielleicht selbst schon einmal in einer Situation einer lebensbedrohlichen Krankheit war, weiß, dass ein Kontakt, ein Anruf, schon erfreut, aber ein Besuch kann besonders gut tun (wenn man nur besuchsfähig ist und den Besuch auch wünscht – letzteres muss der eventuelle Besucher mit ein wenig Behutsamkeit und ohne Druck in Erfahrung bringen. Auch deswegen ist ein Telefonat immer richtig ggf. auch eine Nachfrage bei Menschen, die dem Kranken nahestehen). Den anderen realiter zu sehen, ein Händedruck, eine Umarmung, die Reaktionen beim Gespräch, das Gefühl menschlicher Nähe – all das ist durch kein Telefonat, keinen Videoanruf zu ersetzen.

    Sie haben diese Schwelle überwunden und Ihrer Freundin beiseite gestanden. Sie schreiben „Es ist ein Segen, sich ein letztes Mal treffen und verabschieden zu können.“ Schön und treffend gesagt, und sicher ein großes Geschenk, dass Sie ihr und sich selbst nur so machen konnten.

    Und man kann nur jedem Leser Ihres Texts wünschen, dass er daraus Mut gewinnt, wenn er vor einer ähnlichen Situation steht, sich ebenfalls zu entscheiden, die Sprachlosigkeit doch zu überwinden.

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  12. Herzliches Beileid und danke für Deinen beeindruckenden Text. Es ist schön, dass Du sie genauso in Erinnerung behalten wirst, wenn der Schmerz nachlässt erinnert man sich vor allem an die schönen Momente, auch wenn der Verlust immer bleiben wird.
    Liebe Grüße!

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  13. Hey :-) Ich habe deinen Beitrag gerne gelesen. Kenne das wovon du da schreibst. Habe selbst eine Freundin an Krebs verloren. Mehr als ein halbes Leben zu früh. Aber niemand ist zu jung zum Sterben sagte Hanna immer und sie musste es ja wissen, weil wir ihren 19 Geburtstag nämlich ohne sie feierten.
    Wenn das Leben absurd ist, und dieser These bin ich gerade noch auf der Spur, dann ist es der Tod in jedem Fall auch. Die Frage des ‚Warums‘ habe ich mir aber nie so wirklich gestellt.
    Anfangs hatte ich Angst sie zu vergessen. Nicht ganz natürlich, aber wie das Lachen klang zB, oder der Geruch…sowas halt. Eine Angst los zu lassen. Eine Angst weiter zu leben vlt. Im Grunde vermutlich auch eine Angst vorm Leben selbst, weil das ja alles dazugehört.
    Schöner Text. Danke.

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