Alternative Fakten und Fake News – nicht neu, aber anders

Die mediale Aufregung über Alternative Fakten und Fake News ist groß, spätestens seit Donald Trump beides (je nach Sichtweise) präsentiert und/oder thematisiert. Aber was ist eigentlich neu an Lügen und Falschmeldungen? Alles alter Wein in neuen Schläuchen? Ein Beitrag von Christian Henne und Christian Buggisch

Der Begriff alternative Fakten verdankt seine Bekanntheit Trumps PR-Speerspitze Kellyanne Conway – erstmals verwendet im Januar rund um seine Ernennung zum US-Präsidenten und die Feier zu seiner Amtseinführung. Und genau die Frage, wie viele Leute denn nun da waren, auch im Vergleich zu Obamas Amtseinführung, ist sehr gut geeignet, sich mit dem Begriff zu befassen.

Fakten und Interpretationen

Über die Amtseinführung wurde weltweit diskutiert, es wurden Bilder gezeigt, verschiedenste Einstellungen … Sie sollten belegen, dass bei Trumps Inauguration viel weniger Besucher waren als seinerzeit bei Obama. Dann fingen die Diskussionen an: Stimmt die Perspektive? Stammen die Fotos nicht vom Probelauf? Stimmt da was mit der Zeitverschiebung nicht? Und schon sind wir bei der Frage der unverrückbaren Fakten: Gibt es die in der Politik? In der medialen Vermittlung? Oder haben wir es nicht sehr oft mit Interpretationen, Deutungen und Instrumentalisierungen zu tun?

So wie bei diesem aktuellen Beispiel: Martin Schulz animiert die Besucher einer SPD-Veranstaltung, seinen Namen zu rufen. Wo ist das Problem?, sagen die einen. Er biegt die Wirklichkeit ein wenig zurecht und schafft für die Kameras den alternativen Fakt eines begeisterten Publikums!, sagen die anderen. Weitere Beispiele gefällig? Bitteschön:

Blühende Landschaften?!

Norbert Blüm und die Rente: “Die Rente ist sicher.” Das kann Blüm angesichts der damals schon absehbaren Strukturprobleme und des aufkommenden demographischen Wandels nicht ernsthaft geglaubt haben. Selbst wenn, wäre dieses Versprechen so absurd gewagt gewesen, dass man es weit entfernt von Fakten als alternatives Wunschdenken bezeichnen müsste.

George Bush sr. und der Irak-Krieg: Fakten gemischt mit Lügen, um innenpolitisch in den USA einen Krieg zu rechtfertigen, noch dazu mit Hilfe einer globalen PR-Agentur. Ganz nah an echten Fake-News ;-) Aber dazu unten mehr.

Die Auseinandersetzungen zwischen Shell und Greenpeace um die Versenkung der Ölbohrplattform Brent Spar: Nachhaltigkeit und unternehmerische Verantwortung sind wichtige Themen, deshalb werden in diesem Zusammenhang auch hochbezahlte PR-Profis und Agenturen verpflichtet. Wer hat hier mit “echten”, wer mit alternativen Fakten argumentiert? Am Ende wurde nicht etwa Shell, sondern Greenpeace kritisiert, nicht an Fakten interessiert gewesen zu sein.

Alte Lügen und die neue Rolle der Medien

Fakten und Sachverhalte zu verbiegen, Aspekte wegzulassen oder anders zu beleuchten – all dies gibt es, seit es Kommunikation gibt. Und natürlich gibt es Lügen: im Privatleben, in Unternehmen, in Organisationen, in Teilen des Wissenschaftsbetriebs, in der Politik. Und nicht erst seit Trump …

Eines hat sich allerdings erheblich gewandelt: die Rolle der Medien. Ihre Aufgabe war es immer, zu prüfen und zu kontrollieren. Jeder, der Fakten verbog oder verschwieg, musste sich Sorgen machen, dass ein investigativer Journalist dies herausfindet und richtigstellt. So lange man den Medien genau diese Funktion zugestand, war das System intakt.

Die Sendervielfalt als Problem

Heute verfügen alle, die am öffentlichen Diskurs teilnehmen, über eigene Sender (z. B. durch soziale Medien) mit teilweise beträchtlicher Reichweite. Trumps Administration bringt mit Steve Bannon gleich den Chefstrategen und das Medium Breitbart in einem an den Start. Somit werden auch Politiker unabhängiger von der möglichen Korrektur durch etablierte Medien.

Hier liegt das Kalkül speziell von Bannon und Trump, aber auch der Brexit-Befürworter, der Regierung Erdogan oder der AfD hierzulande. Alle haben gemein, die Unabhängigkeit der Medien in Frage zu stellen. Auf dieser Basis wollen sie dann die eigenen “Fakten” präsentieren. Je mehr Vielfalt es an solchen vermeintlichen Fakten gibt, je weniger die Medien Orientierung bieten, desto beliebiger und ideologischer werden Informationen und Diskussionen. Statt Wissen und gesicherter Erkenntnis zählt, was man glaubt oder glauben will.

Was uns zu den Fake News führt …

Nicht jede Lüge ist eine Fake News

Was genau ist eigentlich eine Fake News? Drei Kriterien als Vorschlag zur Abgrenzung:

1. Es geht nicht um Meinungen, subjektive Einschätzungen oder persönliche Kommentare, sondern um die Darstellung von Tatsachen, letztlich um die Nachricht als journalistische Darstellungsform, die eine möglichst verständliche, um Objektivität bemühte Mitteilung eines aktuellen Sachverhalts ist. Die Aussage „Ich finde, hier sind zu viele Flüchtlinge im Land“ ist damit definitiv keine Fake News, sondern eine Meinung, die man diskutieren kann.

2. Es geht, anders als oben bei den alternativen Fakten, nicht um Äußerungen von einzelnen Personen, insbesondere von Politikern, es muss die mediale, journalistische oder redaktionelle Vermittlung hinzukommen. Blüms Aussage „Die Rente ist sicher“ ist in dem Sinne zwar gewagt und wenig faktisch, aber keine Fake News.

3. Diejenigen, die Fake News veröffentlichen, sollten ein bestimmtes Ziel damit verfolgen. Es geht um bewusste Desinformation. Ein Fehler oder eine unvollständige Recherche ist noch keine Fake News. Das Ziel kann die Beeinflussung von Meinung oder auch schlicht die Steigerung von Reichweite und Auflage sein.

Fake News an der Tagesordnung

Jeden einzelnen Punkt kann (und sollte) man diskutieren. Beispiel: mediale Vermittlung. In Zeiten, in denen jeder nicht nur Empfänger, sondern auch Sender ist, kann jeder auch zum Sender von Lügen werden. Über Twitter oder Facebook oder (rein hypothetisch natürlich) im privaten Blog wie diesem hier. Ist dann jede dahin getwitterte oder gebloggte Falschaussage eine Fake News? Oder gehört nicht der Anschein von Seriosität, Objektivität und Qualität dazu, der üblicherweise von redaktionellen und journalistischen Angeboten ausgeht? Die problematischen Fake News, denen man zum Beispiel in der Filterblase Zwei begegnen kann, stammen eigentlich immer von Seiten, die so tun als wären sie seriöse Nachrichtenquellen.

Sobald wir uns mehr oder weniger auf diese drei Kriterien geeinigt haben, werden wir wie bei den alternativen Fakten feststellen: Fake News gibt es schon ewig. Dass Publizistik zu Propaganda-Zwecken missbraucht wird, ist wirklich nichts Neues. Aber auch jenseits von Politik waren Fake News an der Tagesordnung, lange bevor der Begriff verwendet wurde. Auch hierzu zwei Beispiele:

Horoskope und andere Fake News

Boulevard: Michael Schumacher kann wieder laufen! Prinzessin Sowieso erwartet ein Baby von irgendwem. Fake News gehören zum Standard-Repertoire der Yellow Press, und nicht nur die Königin der Fake News, die BILD-Zeitung, hat seit Jahren ein treues Begleit-Blog, dass fast täglich Fälschungen in dieser Zeitung aufdeckt.

Esoterik: Viele Redaktionen lieben Geschwurbel, weil man ohne großen Sachverstand darüber schreiben kann und weil in vielen von uns eine tief verwurzelte Sehnsucht nach Übernatürlichem steckt. Der Klassiker sind Horoskope. Sie sind kompletter Unfug und dennoch Bestandteil zahlloser redaktioneller Publikationen, sie werden dort ironiefrei und ohne jede Relativierung angeboten und sind damit – Fake News.

Wenn Fake News nun aber nichts Neues sind – warum reden dann alle darüber? Alles nur Hysterie? Oder hat sich etwas verändert in den letzten Jahren?

Der Fake News-Turbo

Ja, es hat sich etwas verändert, jemand hat den Turbo gezündet für Fake News. Und dieser Turbo heißt Digitalisierung. Genau genommen gibt es (mindestens) einen vierfachen Turbo:

Erstens gibt es mehr Fake News als früher. In digitalen Zeiten kann jeder in Nullkommanichts eine seriös scheinende Webpräsenz eröffnen und Fake News veröffentlichen. Die Produktionsbedingungen waren früher einfach schwieriger und teurer, was die Erzeugung von News und Fake News gleichermaßen erschwert hat. Hinzu kommen, wie oben bereits geschrieben, schwächelnde Gatekeeper: Klassische journalistische Angebote werden weniger nachgefragt, Redaktionen müssen zusammengelegt werden oder schließen, Zeitungen sterben.

Zweitens sind Fake News in der digitalen Welt zunächst gleichberechtigt mit echten Nachrichten. Ein Blick in die Google-Trefferliste genügt: Wer „Impfschaden“ eingibt, bekommt unmittelbar nacheinander Treffer von Spiegel Online und dem „Zentrum für Gesundheit“ angezeigt. Letzteres wirkt wie ein professionelles redaktionelles Nachrichtenangebot, schürt aber unverantwortlich und auf Basis reiner Phantasie-Zahlen und -Fälle die Angst vor Impfungen.

Schnellere Verbreitung, stärkere Wirkung

Drittens verbreiten sich Fake News schneller. Dank sozialer Medien sind Nachrichten in Windeseile in jeder Timeline und auf jedem Endgerät zu finden. Und genauso schnell wieder verschwunden, was ein Problem darstellt für alle Versuche, sie redaktionell zu kennzeichnen, woran Facebook zurzeit bekanntlich arbeitet. Bis ein einsamer Correktiv-Redakteur eine Fake News geprüft und gekennzeichnet hat, hat sie längst die Runde gemacht und ihren Schaden angerichtet.

Und viertens wirken Fake News stärker, dank Filterblasen und virtueller Echokammern. Die gab es zwar auch schon zu analogen Zeiten, der gute alte Stammtisch war ebenfalls eine Echokammer. Aber die digitalen Kammern sind viel schneller und hermetisch dichter abgeriegelt.

Fazit

Alternative Fakten und Fake News gab es schon immer. Neu ist, dass im Zuge der Digitalisierung die Medienvielfalt täglich zunimmt und der seriöse Journalismus an Bedeutung verliert. Im Ergebnis fehlen ein zuverlässiges Korrektiv und Orientierung für die Rezipienten. In dieser Lücke breiten sich, befeuert durch Digitalisierungseffekte, alternative Fakten und Fake News, Glaube und Ideologie aus. Das ist gefährlich und kann einer aufgeklärten Gesellschaft nicht egal sein.

Christian Henne ist Kommunikations- und Digitalstratege. Der gelernte Journalist und langjährige PR-Berater ist heute Geschäftsführer der Strategieberatung HenneDigital und Gesellschafter des MUNICH DIGITAL INSTITUTE.

Bildnachweis: Rasande Tyskar Bla Bla Land via photopin (license)

11 Gedanken zu “Alternative Fakten und Fake News – nicht neu, aber anders

  1. Jetzt wird der Digitalisierung vielleicht auch etwas zu viel Macht zugesprochen. Beispiel Trump: man hört ja überall, dass er ohne die sozialen Medien (insbesondere Twitter) nicht so weit gekommen wäre. Das passt insofern nicht ins Bild als das seine Anhänger (und die Anhänger aller Populisten weltweit) jetzt nicht unbedingt die Speerspitze der Digitalisierung bilden. Im Gegenteil. Man erreicht sie schätzungsweise noch am ehesten über die traditionellen Medien, wobei die digitalen Echokammern schon zur Bestätigung des Weltbilds dienen.

    Der geschätzte John Oliver hat das in seiner Sendung schön rausgearbeitet: https://youtu.be/xecEV4dSAXE – Kurze Zusammenfassung: Trump und seine Anhänger berufen sich auf die gleichen Informationsquellen: die journalistisch fragwürdigen, eher emotional informierenden und reichweitenstarken Cable News in den USA. Trump scheint sich aus keinen anderen Quellen zu informieren und seine offensichtlich zahlreichen Anhänger auch nicht. Trump fühlt sich nun durch seinen Zuspruch in seiner Realität bestätigt und gleichzeitig fühlen (sic) sich seine Anhänger bestätigt, weil jemand „von da oben“ ihnen durch seinen Erfolgt bestätigt, was sie schon immer irgendwie in ihrer emotional aufgeladenen Realität gefühlt haben. Ein Teufelskreis, den man irritierenderweise mit Gegeninformation und Aufklärung nicht durchbrechen kann. Die Filterblasen sind dicht.

    Dennoch hat John Oliver eine gewiefte Idee, um in diese Blasen einzudringen, aber das schaut ihr euch mal selbst im Video an :)

    Gefällt 1 Person

  2. Einige Anmerkungen und Ergänzungen:
    1. Da Nachrichten unser Weltbild mitbestimmen, ist natürlich bereits die Auswahl der Nachrichten durch Presseagenturen und Redaktionen eine Manipulation. Wirklichkeiten werden fabriziert, indem Themen gemacht (lat. facere) oder „gespielt“ werden. Insofern sind Nachrichten inhärent „Fake“.
    2. Da Nachrichten immer die Ausnahme betreffen, immer auf die Sensation und den Skandal abzielen, verzerren sie die Wirklichkeit. Auch das ist ihnen inhärent. Da Menschen ihre Aufmerksamkeit evolutionsbedingt instinktiv auf Bedrohungen und Gefahren lenken, handeln Nachrichten aus kommerziellen Gründen überwiegend von Bedrohungen und Gefahren. Die Vorstellung, dass wir am Rande aller möglichen Abgründe leben, ist eine Fabrikation von Nachrichten. Auch das ist inhärent. Rolf Dobelli rät daher dazu, möglichst gar keine News mehr zu konsumieren. http://www.zeit.de/2012/40/Dobelli-Klarer-denken
    3. Am besten lügt es sich mit der Wahrheit. Man muss ihr nur einen kleinen Schliff versetzen. So geschieht es seit vielen Jahren z.B. in der Berichterstattung zu Israel: „Palästinser sterben bei Messerattacken auf Israelis“, „Israel droht mit Selbstverteidigung“, etc.: https://youtu.be/ZpzyPgC2ZeE
    4. Das Bemühen, Rechtsradikalen möglichst kein Futter hinzuwerfen, scheitert kläglich und bewirkt das Gegenteil. Das Zurückhalten relevanter Informationen (meist in Bezug auf Herkunft und Religion von Tätern) wird nämlich, wenn sie dann später doch nachgereicht werden müssen, als absichtliche Lüge empfunden, nicht nur von diesen Rechtsradikalen. Auf diese Weise vernichtet der Versuch der Redaktionen, souverän die Ethik des Diskurses bestimmen zu wollen, ihre Glaubwürdigkeit.
    5. Früher haben sich große und meinungsbestimmende Zeitungen gern im Untertitel „Unabhängig“ oder „Überparteilich“ genannt. Nach der Wahl von Trump steht unter „Washington Post“ jetzt der Spruch „Democracy Dies in Darkness“.

    Gefällt 1 Person

  3. Sehr guter Artikel! In weiten Teilen stimme ich dem zu.
    Bzgl. des demografischen Wandels bin ich aber absolut überzeugt davon, dass es sich hier um PR und Angstmache handelt. Insofern war Blüm schon davon überzeugt, dass die Rente sicher ist, vorausgesetzt, dass diese nicht durch die Politik abgebaut wird. Blüm hat seine Aussage in „Der Anstalt“ auch noch mal wiederholt, wenn auch nicht ganz aus eigenem Antrieb (https://youtu.be/HLFk8uVFjo8?t=518). Wie Statistiken genutzt werden, um Angst zu erzeugen, sieht man gut in diesem ARD-Beitrag (Im Land der Lügen: https://www.youtube.com/watch?v=0obDIkEDUtU). Was beim „Demografiewandel“ meist nicht berücksichtigt wird, ist das Wirtschaftswachstum, welches den „Wandel“ schon bei einem Wachstum von jährlich 0,4% kompensiert (http://www.annotazioni.de/post/1935). Bei den Angst-Prognosen rechnet man auch z. T. schon bis 2060 und je nachdem, welche Parameter angenommen werden, schwanken diese auch um +/- 15 Millionen Einwohner (s. S. 62 „Die Vorsorge Lüge“ Holger Balodis/Dagmar Hühne).

    Like

Und jetzt sag deine Meinung:

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..