Beschleunigung und Entschleunigung in Zeiten von Corona

Geht euch das auch so? Die Wahrnehmung von Zeit hat sich komplett verändert. Die Beschleunigung der Corona-Krise hat zu einer unfassbaren Beschleunigung der Ereignisse geführt, und damit sind normale Abläufe außer Kraft gesetzt …

Ein Beispiel? Noch vor eineinhalb Wochen saß ich in einem gut gefüllten Indoor Cycling Kurs im Fitnessstudio. Das war vor wenigen Tagen noch normal. Am Tag darauf wurden alle Kurse abgesagt, aber das Studio blieb weiter geöffnet – bis vor einer Woche. Und so kamen Tag für Tag neue Einschränkungen dazu, bis hin zur Ausgangsbeschränkung in Bayern ab Freitag. Hätte sich vor wenigen Wochen jemand mit uns über solche Maßnahmen unterhalten wollen, hätten wir ihn für komplett verrückt erklärt, obwohl in anderen Teilen der Welt Corona schon ein Thema war. Fußballspiele erst ohne Publikum und dann gar nicht mehr? Das hat vor sehr kurzer Zeit noch für sehr erregte Diskussionen gesorgt.

Auf diese maximale Beschleunigung wird nun eine gewaltige Entschleunigung folgen. Wir sitzen fest, und das ist auch gut so. Echte Neuigkeiten wird es kaum noch geben – bis ein Medikament oder Impfstoff gefunden ist. Wir arbeiten zu Hause und leben zu Hause, freuen uns, lieben uns und nerven uns zu Hause, die Zeit wird lang und länger werden, erst Recht wenn die Beschränkungen länger dauern, und man darf gespannt sein, wie der Mensch damit umgeht.

Ein wesentlicher Bestandteil meiner persönlichen Überlebensstrategie in Zeiten der Isolation ist übrigens: Sport. Kein Tag ohne. Von ausgedehnten Spaziergängen über Joggingrunden hin zu Rennradtouren: Nichts lüftet besser den Kopf. Von Virologen empfohlen, von Söder erlaubt – ein Glück! Für den Indoor-Sport habe ich mir rechtzeitig, bevor alle anderen auf die Idee kommen und für einen klopapierrollenartigen Ausverkauf sorgen, ein TRX-Band zugelegt. Gestern Abend erste Einheit zusammen mit zwei Söhnen – wunderbar.

Dieser Sport ist auch aus ganz praktischen Gründen dringend nötig – Stichwort Homeoffice. Die Ergonomie des Arbeitens zu Hause bekommt ein paar Minuspunkte, da muss ich noch was verändern. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Was mich wirklich begeistert ist, wie schnell mein Arbeitgeber wie viele Kolleginnen und Kollegen wie technisch stabil in die Remote-Arbeit gebracht hat. Klar, Homeoffice machen wir schon lange, gelegentlich mal einen Tag zu Hause, eine wachsende Zahl an Menschen. Aber letzte Woche haben in der Spitze 5.400 (von rund 8.000) unserer Mitarbeiter im Homeoffice gleichzeitig gearbeitet und die Leitungen malträtiert, und das weitgehend ohne Probleme. Bei aller regelmäßig auch hier im Blog geäußerten Kritik am Stand der Digitalisierung in Deutschland: Das ist schon ziemlich cool.

Und dabei ist mir völlig klar, dass wir privilegiert sind, weil wir Digitalarbeiter sind, die sehr viel im Homeoffice erledigen können. Viele Berufe, die nicht digitalisierbare Kontakte erfordern, verdienen zweierlei: Bewunderung und Unterstützung. Bewunderung natürlich zum Beispiel all die gnadenlos unterbezahlten Berufe in Krankenhäusern, Altenheimen und Kindergärten, die auf einmal als systemkritisch erkannt wurden, was an der Unterbezahlung nach dem Ende der Krise vermutlich nichts ändern wird. Und Unterstützung alle kleinsten, kleinen und mittelständischen Unternehmen, die nun reihenweise von der Insolvenz bedroht sind, weil ihre Kosten munter weiter laufen, währen die Einnahmen wegbrechen. Beispiel Gastronomie: Letzte Woche waren wir zweimal in der Homeoffice-Mittagspause in der Stadt. Alles war wie leergefegt, schon vor der Ausgangsbeschränkung. Sehr leer war es leider auch bei den Gastronomen, die ihre Tische mit ausreichend Abstand aufgestellt hatten. Aber seit Freitag ist das eh hinfällig, und das wenige „To go“-Geschäft wird kaum etwas ausgleichen.

Noch Lust auf ein paar Links? Bitteschön …

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Angela Merkel hat eine Rede zur Lage der Nation gehalten und es war eine phantastische Rede. Wir selbst sind ja nach gefühlten Jahrhunderten ihrer Kanzlerschaft ein wenig merkelmüde, aber um zu verstehen, was wir an ihr haben, genügt ein Blick ins Ausland, wo man sich in trumpesk regierten Ländern nichts sehnlicher wünscht als jemanden wie sie. Eine Sehnsucht, die etwa in einem Kommentar des NewYork Magazins deutlich wird:

Angela Merkel doesn’t do drama and she doesn’t give speeches on TV. So the mere fact that the German chancellor faced the camera across a desk andspoke to the nation Wednesday evening made the gravity of the situation clear. “Es ist ernst,” she said—“This is serious”— and those three bland words had more power than a hellfire sermon.

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Computersimulationen sind was Wunderbares, um Entwicklungen zu prognostizieren und zu vergleichen. Diese Simulation hat ein Kybernetikstudent erstellt und sie vergleicht sehr anschaulich die Ausbreitung von Epidemien mit und ohne „Social Distancing“. Und sie zeigt auch, warum Maßnahmen wie die Ausgangsbeschränkung in Bayern zum jetzigen Zeitpunkt völlig sinnvoll ist, um die Gesundheitssysteme nicht zu überlasten und – ganz einfach, denn darum geht es letztlich – Menschleben zu retten:

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Ein viel geteilter Artikel zu Corona stammt vom Zukunftsforscher Matthias Horx, und er wurde vor allem deshalb viel geteilt, weil er einen sehr tröstlichen Optimismus ausstrahlt. Horx betreibt darin eine Regnose (statt einer Prognose), also eine Rückschau in einigen Monaten auf das, was dann war und sich verändert hat. Und er entdeckt viel Positives. Wie immer bei Zukunftsforschern ist das ein gewagtes Konstrukt, aber der Optimismus tut gut und viele seiner Überlegungen sind bedenkenswert:

Heute im Herbst, gibt es wieder eine Weltwirtschaft. Aber die Globale Just-in-Time-Produktion, mit riesigen verzweigten Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den Planeten gekarrt werden, hat sich überlebt. Sie wird gerade demontiert und neu konfiguriert. Überall in den Produktionen und Service-Einrichtungen wachsen wieder Zwischenlager, Depots, Reserven. Ortsnahe Produktionen boomen, Netzwerke werden lokalisiert, das Handwerk erlebt eine Renaissance. Das Global-System driftet in Richtung GloKALisierung: Lokalisierung des Globalen. (…) Vielleicht werden wir uns sogar wundern, dass Trump im November abgewählt wird. Die AFD zeigt ernsthafte Zerfransens-Erscheinungen, weil eine bösartige, spaltende Politik nicht zu einer Corona-Welt passt. In der Corona-Krise wurde deutlich, dass diejenigen, die Menschen gegeneinander aufhetzen wollen, zu echten Zukunftsfragen nichts beizutragen haben. Wenn es ernst wird, wird das Destruktive deutlich, das im Populismus wohnt.

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Sascha Lobo beschäftigt sich in seiner Spiegel Online-Kolumne mit einem anderen Aspekt der Corona-Krise, den er Vernunftpanik nennt:

Wenn Vernunft bedeutet, ein brennendes Haus zu löschen, heißt Vernunftpanik, sicherheitshalber auch einen Stausee um das Haus zu fluten.

Statt vernünftig mit der Krise umzugehen (nicht verharmlosend, aber eben auch nicht dramatisierend), zeigen nicht wenige in ihrer Vernunftpanik mit den Fingern auf andere, die es vermeintlich unverantwortlich falsch machen. Damit ist diese Panik auch ein soziales Phänomen, ein Distanzierungsmerkmal für Privilegierte, eine – Entschuldigung – elitäre Klugescheißerei:

Gerade das, was wir im Alltag als Vernunft betrachten, hängt viel öfter von der jeweiligen Position der Sprechenden ab als man wahrhaben möchte. Hinter dem schreienden Vernunftappell kann sich so viel mehr verbergen: Selbstgerechtigkeit, Angstlust oder schiere Missgunst. Wenn ich freiwillig nicht mehr rausgehe, sollen es die anderen gefälligst auch nicht tun! Außer natürlich zur Arbeit, denn die ist viel wichtiger als etwa die psychische Gesundheit. Die Verkäuferin im Einzelhandel hat gefälligst acht Stunden unterbezahlt an der Kasse zu sitzen und sich von barschen Kunden anhusten zu lassen – aber mit ihrem Kind eine halbe Stunde im Park zu verbringen, damit sie nicht durchdreht, das ist unverantwortlich! Ruft man ihr mit dem Lieferprosecco in der Hand in der Netflix-Pause vom Balkon aus zu, Hashtag #staythefuckhome.

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Es gibt natürlich auch noch gute Nachrichten. Zum Beispiel: Es ist Bärlauch-Zeit! Schnappt euch Schere und Tasche, macht sozial isoliert einen Spaziergang zum nächsten Wald, greift beherzt zu (sofern ihr euch sicher seid, dass es sich um Bärlauch handelt und nicht um Maiglöckchen), sucht nach einem schönen Rezept und macht das Beste daraus! Bei uns gab’s unter anderem Spaghetti mit Bärlauch-Sauce und das obligatorische Bärlauch-Pesto für die kommenden Tage …

4 Gedanken zu “Beschleunigung und Entschleunigung in Zeiten von Corona

  1. Der Vorteil an Deinen Beiträgen ist, dass ich sie nicht schreiben muss ;) – will meinen, ich stimme Dir in allem zu und hätte es – vermutlich nur etwas schlechter – genau so geschrieben. Alles Gute für Dich und Deine Familie!

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