Tempi passati

Wenn man mehr Leben hinter als vor sich hat, neigt man zum Schwelgen in der Vergangenheit. Das kann nerven, muss aber nicht …

Den Kindern erzählen, wie’s früher war. Kenne ich. Je älter ich werde, desto mehr erzähle ich Geschichten von vor‘m Krieg, die natürlich niemanden interessieren. Klappt nicht nur bei Kindern, sondern auch im Büro. Besonders beliebt bei mir und besonders egal für die Zuhörer: „Früher, als um die Zeit noch CeBIT war …“ Die sehr jungen Kollegen schauen einen verständnislos an, die etwas älteren schalten erkennbar auf Durchzug, weil sie wissen, dass jetzt wieder ne olle Hannover-Story folgt. Na ja. 

Diesen zunehmenden Vergangenheits-Eskapismus bemerke ich auch in den neuesten aller Medien, den sozialen. Facebook (zugegeben: nicht sehr neu) nutze ich vor allem wegen dieser phantastischen „Erinnerungen“-Funktion. Heute vor einem Jahr haben wir diese Wanderung gemacht … Heute vor drei Jahren, herrje, Lockdown damals, erinnerst du dich … Heute vor neun Jahren, nein, waren die Kinder damals noch klein … Social Media als Museum. 

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Dieses Festhalten an Vergangenem manifestiert sich auch bei gelegentlichen Film-Abenden. Zwei der (inzwischen erwachsenen) Kinder sind mal wieder zu Hause, wir haben Lust, einen Film zu schauen, wie wär‘s denn heute mit … Beim Scrollen durch die sehr umfangreichen Angebote der diversen Streaming-Plattformen bleiben wir regelmäßig bei Filmen aus der Kategorie „Ach, schau mal, den haben wir damals im Kino gesehen“ hängen. Das wird dann meistens doppelt interessant: Funktioniert der „Klassiker“ noch für die Älteren? Und kann die jüngere Generation etwas damit anfangen?

„Klassiker“ steht dabei also nicht für ewige Perlen aus dem Archiv wie Casablanca oder Some Like It Hot, sondern eben für das, was damals im Kino lief und nicht immer zu 100 Prozent filmpreiswürdig war. So schauten wir uns kürzlich Con Air an, ein Film wie er kaum typischer für ein bestimmtes Kino der 90er Jahre sein könnte. Produktion: Jerry Bruckheimer, das sagt alles. Das für damalige Zeiten beachtliche Millionen-Budget ist bei diesen Filmen jedenfalls nicht in elaborierte Arbeiten am Drehbuch geflossen, das auf der Prioritätenliste irgendwo zwischen „interessiert niemanden“ und „völlig egal“ einsortiert ist. Dafür gibt‘s eine gut getimte Mischung aus üppiger Inszenierung, handfester Action und mehr oder weniger flotten Sprüchen, die damals das Volk in die Kinos zogen. 

Funktioniert das heute noch? Durchaus. Ist besser gealtert als gedacht. Die Kinder sind amüsiert, wir haben uns nicht gelangweilt. Was so gar nicht mehr funktioniert, ist die Rolle der sehr wenigen Frauen im Film (zwei, um genau zu sein). Der ganze Film dreht sich ja um einen Gefangenentransport per Flugzeug, der von einer ebenso bunten wie brutalen Gang gekapert wird, während unser strahlender Held eigentlich nur mitfliegt, um irgendwo seine Entlassungspapiere zu unterschreiben (Drehbuch, Logik, siehe oben). Der Held vereitelt nicht nur die Entführung, er besorgt natürlich auch seinem angeschlagenen Freund die rettende Insulin-Spritze und bewahrt, um aufs Thema zurück zu kommen, eine von beiden Frauen vor Vergewaltigung und Tod. Frau Nummer eins also ist Gefangenenwärterin im Flugzeug und nur so lange Chefin im Ring, bis die Meute das Flugzeug übernimmt. Dann braucht sie dringend männliche Hilfe, für die sie am Ende angemessen dankbar ist und ihrem Retter ein Kuss auf die Wange haucht. 

Alles nichts im Vergleich zur Frau Nummer zwei, der weiblichen Hauptfigur. Sie ist derart zart, zerbrechlich, blond und schön; und derart perfekt daraufhin gecastet, einerseits die erotischen Phantasien der pubertierenden Teenager im Publikum zu aktivieren, andererseits den Beschützerinstinkt der älteren männlichen Zuschauer zu wecken (in Wahrheit vermutlich eine Mischung aus beidem in beiden Zielgruppen), dass man es kaum aushält. Was sie nicht tut: Irgendetwas Sinnvolles zur Handlung beitragen, einen halbwegs geraden Satz sagen, irgendetwas ausstrahlen. 

Man muss kein woker Feminist im Hyperventilations-Modus sein, um das heute ein bisschen schwierig zu finden. Aber gut, 25 Jahre ist das her. Nur oder schon, je nach Sichtweise. Es waren halt andere Zeiten.

Beste Szene übrigens, völlig zeitlos: Steve Buscemi als wahnsinniger Serienkiller, der mit einem kleinen Mädchen He‘s got the whole world singt: 

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Anderer Abend, anderer Film, auf der Qualitäts-Leiter ein paar Stufen weiter oben angesiedelt: Zero Dark Thirty aus dem Jahr 2012 über den langen Weg bis zur Tötung Osama bin Ladens durch eine US-Spezialeinheit. Ich mag generell Filme, die es schaffen, spannend zu sein, obwohl man genau weiß, wie sie ausgehen. Und, Überraschung, eine Frau im Zentrum der Ereignisse, die in jahrelanger, hartnäckiger Detailarbeit und mit ein wenig verbissener Besessenheit für den Erfolg verantwortlich ist. Das für meine Kinder Historische ist auch weniger der Film als die beschriebenen Ereignisse vom September 2001 bis zum Mai 2011. 9/11 ist natürlich allen ein Begriff, die Details rund um al Quaida und bin Laden versinken aber schon wieder in den Geschichtsbüchern.

Wir reden also über diese vergangenen Zeiten, kommen vom einen zum anderen und landen schließlich bei diesem legendären, ikonischen Foto aus dem Situation Room des Weißen Hauses, das meine Kinder noch nicht kannten:

Von Pete Souza – White House Flickr Feed, gemeinfrei

Und wie so oft bei historischen Filmen, die einen zu historischen Situationen führen, beginnt man ein wenig nachzulesen, erinnert sich an manches und lernt vieles Neues dazu. Der Wikipedia-Artikel zu diesem Foto, in dem man sich locker eine Stunde festlesen kann, ist tatsächlich ein Quell an Wissen und Freude. Wissen, weil man zum Beispiel lernt, dass die Protagonisten im festgehaltenen Moment gar nicht zusehen, wie bin Laden erschossen wird, sondern wie der eine der beiden eingesetzten Hubschrauber abgestürzt ist oder abschließend mit Sprengstoff zerstört wurde.

Und Freude, weil um das Foto eine wirklich verrückte Exegese entstanden ist, als würde es sich um ein überraschend auf einem staubigen Dachboden gefundenes Spätwerk Caravaggios handeln. Das beginnt mit technischen Details, da wird sozusagen jedes Pinselhaar gezählt: „Mit einer Canon EOS 5D Mark II aufgenommen. Bei der Aufnahme wurde kein Blitzlicht verwendet, die Brennweite betrug 35 Millimeter, die Belichtungsdauer eine Hundertstelsekunde und die Blendenzahl 3,5. Die Bildauflösung beträgt 4.096 × 2.731 Pixel.“

Es gibt ausführliche Beschreibungen und Interpretationen zu Hillary Clinton, Barack Obama und allen weiteren Menschen auf dem Foto. Clintons Geste ist dabei ebenso Objekt der Analyse wie Obamas sportliche (einem Golfspiel geschuldete) Kleidung, durch die „ein assoziativer Bezug zu Volksnähe und Normalität“ entstehe. Manchen Interpreten geht dabei ein wenig die Phantasie durch: Unbefangene Betrachter könnten „in der Kleidung Obamas und dem Kontrast zu dem neben ihm in Uniform sitzenden General Webb ein Symbol für den Machtverlust der Politik in Sicherheitsfragen gegenüber dem Militär sehen.“ Auf der anderen Seite „könne man sie als ein imagewahrendes Symbol für Obamas progressive politische Agenda und seine Dialog suchende Politik mit den Staaten des Mittleren Ostens verstehen.“

Vollends skurril wird die Sache, wenn man Leute ranlässt, die das studiert haben, was ich studiert habe: „Der Kunsthistoriker Michael Diers sieht in der Komposition von Souzas Fotografie aus dem Situation Room Ähnlichkeiten zu Gruppenbildern der holländischen Barockmalerei. Im Besonderen vergleicht er es mit Rembrandts Gemälde Die Anatomie des Dr. Tulp aus dem Jahr 1632, das aus seiner Sicht nicht nur im Aufbau, sondern auch im Sujet der Fotografie ähnelt.“ 

Yeah, well, ich sag‘s mal mit dem Dude, um den Bogen zurück zu Filmen der 90er Jahre zu schlagen:

Aber: Auch solche ikonischen Fotos werden bald vergangenen Zeiten angehören, die nicht wiederkommen. Denn wenn sich alle halben oder richtigen Experten bei irgend etwas einig sind, dann dabei, dass künstliche Intelligenz künftig alles Denkbare als Foto faken kann, und zwar in einer Art und Weise und Qualität, die Originale nicht mehr von Fälschungen (oder von künstlich generierten Fotos) unterscheidbar macht. Das ist einerseits ziemlich cool, wie man ja schon an den kursierenden, aber noch nicht perfekten Papst Franziskus- und Donald Trump-Fotos sehen kann. Aber es heißt halt auch, dass wir Fotos künftig nicht mehr glauben können, noch viel weniger als heute, also gar nicht mehr. Ein Foto wie das aus dem Situation Room wäre interessant, würde aber niemals den Status einer historischen, singulären, über sich selbst hinausweisenden Aufnahme bekommen, weil halt immer die 50:50-Möglichkeit mitschwingen wird, dass es nicht echt ist.

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