Exotisch, exotisch: Familien im Spießer-Ghetto

Ein rätselhafter Artikel am Wochenende in der Süddeutschen Zeitung: Der Autor berichtet von einem Neubaugebiet für Familien außerhalb von München. Sowas wie ein exotisches Ghetto für Familien mit Kindern jenseits der großen attraktiven Stadt …

Der Beitrag über die Gemeinde mit dem lustigen Namen Poing bei München gibt sich neutral, dünstet aber in jeder Zeile Überheblichkeit aus. Die Baugebiete heißen lächerlicherweise „Arkadien“ und „Zauberwinkel“. Dahinter stecken mutmaßlich Marketingexperten und kühle Kosten-Nutzen-Abwägungen. Individuelle Architektur? Fehlanzeige. Dafür ist das Ganze bezahlbar.

Generation Kleingarten

Der Autor schlendert durch die Wohngegend, wundert sich, wie die „Generation Kleingarten“ sich diese kleinbürgerlich-isolationistische Spießigkeit antun kann, und fragt: „Will ich selber so leben, in einer Vollkasko-Gemeinde mit lauter Gleichgesinnten, die es schon mit Mitte 30 endlich ruhiger angehen lassen wollen? Lohnt es sich wirklich, die schöne Stadt München aufzugeben, um eine 50 Quadratmeter große Gartenfläche bewässern zu dürfen?“

Auch ich gehöre wohl zur Generation Kleingarten ...
Auch ich gehöre wohl zur Generation Kleingarten …

Ihr merkt schon: Was dem Opa sein Ohrensessel war, ist dem modernen Familienvater sein Reihenhaus-Kleingarten. Hauptsache gemütlich rundumversorgt in der Filterblase der eigenen Peer-Group. Stundenlang darüber diskutieren, ob Parkett oder Laminat die bessere Alternative ist. Danach sehnen sich heutige Familien. Nicht mehr nach dem aufregenden multikulturellen Großstadtleben mit Literaturcafés, Experimentiertheater und anderen urbanen Abenteuern. Meint der Autor.

Käseglocke und Kugelgrillterror

Dann wird der „Architekturkritiker“ Niklas Maak zitiert: „“Es ist eine gigantische Fehlentscheidung, lauter Häuser für Kernfamilien zu bauen. Die Leute wohnen da wie unter einer Käseglocke.“ Maak, der für eine intelligentere Verdichtung in den Städten wirbt, kann sich mächtig aufregen über die „Legebatterie-Planung“, die „industriell gefertigten Einheitshäuser“, den „Kugelgrillterror“ in Gartenparzellen.“

Na gut, für die einen mag der ultimative Alptraum darin bestehen, dass Menschen abends den Grill anwerfen und mit Freunden unter freiem Himmel ein Bier trinken. Andere bekommen eher Gewaltphantasien, wenn sie „intelligente Verdichtung“ hören, weil sie wissen, dass alles, was lautstark als „intelligente“ Lösung angepriesen wird, vermutlich das genaue Gegenteil davon ist. (Ich kann das beurteilen, denn ich habe selbst vor Jahren mal einen „intelligenten Bestellbutton“ für unsere Website erfunden, der ungefähr den IQ eines Nacktmulls hatte.)

„Es gibt nicht wenige, die über Poing die Nase rümpfen“, orakelt der SZ-Autor zusammenfassend. Er selbst ist offenbar einer der nicht wenigen.

Exotik am Stadtrand: Familien mit Kindern

Wahrlich eine gigantische Fehlentscheidung: Häuser für Kernfamilien
Wahrlich eine gigantische Fehlentscheidung: Häuser für Kernfamilien

Was mich beim Lesen des Artikels wirklich beschäftigt hat, ist folgender durch und durch faszinierende Umstand: Das einigermaßen normale Leben von Familien mit Kindern (ich lebe auch ein solches: in einem Reihenhaus am Stadtrand von Erlangen, drumrum ähnliche Häuser vieler weiterer Familien) ist einen langen Zeitungsartikel wert, weil dieses Leben für die heutigen Leser vermutlich ähnlich exotisch wirkt wie das Paarungsverhalten von Gazellen in der afrikanischen Savanne. Willst du mal wieder was Exotisches sehen? Dann gehen wir in den Zoo oder in die Neubausiedlung am Stadtrand!

Andererseits kein Wunder. Wer das Finanzierungsproblem gelöst hat (Erbtante? Lottogewinn?) und sich als kinderreiche Familie (nach heutiger Definition: mehr als 0 Kinder) für ein urbanes Leben entscheidet, sieht sich vor neuen Herausforderungen, oder nennen wir es ruhig: Zumutungen. Er sieht sich nämlich mit anderen Menschen konfrontiert. Jenen, die Kinder nur noch aus der Zeitung kennen und auf echte Begegnungen mit diesen lärmenden Wesen gut verzichten können.

Niemand hat die Absicht, um Spielplätze Mauern zu bauen …

Wie diese Herrschaften, die hinter ihrer Wohnungstür bei eingeschaltetem Kinderlärm-Radar nur darauf lauern, dass irgendwo ein Kind quäkt, um sich sofort lautstark bei den Eltern über deren ungeheure Rücksichtslosigkeit zu beklagen (lautstärker als das Kind gequäkt hat, versteht sich).

Oder wie die Bewohner der „Luxuswohnsiedlung Fünf Morgen Dahlem Urban Village“ in Berlin Zehlendorf, die einen nahen Spielplatz mal eben mit einer fünf Meter hohen Schallschutzwand kasernieren ließen. Das Konzept „Mauer“ in Berlin hatte sich ja jahrzehntelang bewährt. Was soll man auch sonst tun als Anwohner, nachdem man nicht mehr gegen Kinderlärm klagen kann, weil der Gesetzgeber, dieser realitätsferne Phantast und Idealist, vor drei Jahren einfach festgelegt hat, dass Kinderlärm keine „schädliche Umwelteinwirkung“ ist.

Willkommen im Land der Gentrifizierung, wo Familien mit Kindern allmählich aus dem öffentlichen Raum verschwinden und zu einem Kuriosum werden …

6 Gedanken zu “Exotisch, exotisch: Familien im Spießer-Ghetto

  1. Ach mein Gott.Der Autor ist entweder unter 30 oder über 60. Und er hat auch noch nie versucht, in München eine auch nur ansatzweise halbwegs zentrale und bezahlbare Wohnung für Familie mit z.B. zwei Kinder zu suchen. Vielleicht ist er auch Erbe. Für dieses eine Prozent der „nicht wenigen“ ist es einfach sich über Poing zu wundern.

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  2. Nun… auch wenn es dem Anliegen nach richtig ist:
    Ich kenne Poing, ich kenne diese Siedlungen in all dieser ans Absurde grenzenden Atmosphäre und ich kenne Leute, die ernsthaft dahin gezogen sind.
    Und ich kenne kaum ein ehemaliges Dorf im Münchner Osten das den Bogen dermaßen überspannt hat mit immer neuen Siedlungsgebieten und einer neuen „Mitte“, einem durch die S-Bahn abgespaltenen eigentlichen Ortskern und einem Gewerbegebiet, dass sich bis in den neuen Mittelpunkt des Ortes hereinzieht.
    Ein komplett misslungenes unorganisches Wachstum.

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    • Als im unorganisch gewachsenen Lebender frage ich mich was genau „überspannt hat“ bedeuten soll?
      Das Siedlungsgebiete nicht mit Gewerbegebieten – Stahlgruber / TipTop aka Chemische Industrie die möchte ich unbedingt neben meiner Eingangstür sehen – vereint wurden? Der alte Ortskern nicht plattgefalzt und neu erschaffen wurde?
      Was wäre den Ihre Alternative wenn Sie Wohnraum im Münchener Umland schaffen wollen/müssen?

      Also dann lieber Plattbauten, 16 Geschosser? Autobahnen/Bundesstrasse in die letzte Ecke – Isental bspw.?
      Auf das sich morgen wieder beschwert wird das München a. so teuer und b. so wenig Angebot und c…

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  3. Diese Art von Siedlung ist aber nichts Neues und gibt es in vielen, auch kleineren Städten. Wie beispielsweise im nordhessischen Spangenberg oder Melsungen. Damals – in den 50er Jahren – bauten sich viele Heimatvertriebene dort ein Haus. Dort ist die Homogenität immer noch sehr hoch: Inzwischen leben in vielen dieser Häuser nur noch die „Überlebenden“ des jeweiligen Paares, die Kinder sind längst weg. Verkaufen lassen sich die Häuser schlecht, selbst an junge Familien. Das liegt allerdings weniger an der Lage, sondern daran, dass eben drumherum kaum andere junge Familien leben.

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    • Möglicherweise liegt das ganze aber auch daran, dass sich Häuser in der Gegend Hessens generell schlecht verkaufen lassen. Oder auch an der schlechten baulichen Qualität der Häuser.

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