Ein Tag im Jahr

Einmal im Jahr verbringe ich einen Tag in der Erlanger Augenklinik. Es ist jedes Mal ein Tag der Entschleunigung …

Krankenhäuser sind ja nun eher keine Sehnsuchtsorte. Sie verlangen einem einiges ab, egal ob man als Besucher oder Patient kommt.

Was sie einem primär und grundsätzlich abverlangen ist: Geduld. Wenn man wie ich einmal im Jahr zum Durchchecken hierher kommt (nichts Dramatisches, aber regelmäßiger TÜV, damit das auch so bleibt), bedeutet das: Warten. Anmeldung. Warten. Erste Untersuchung. Warten. Test. Warten. Noch ein Test. Warten. Und so weiter. Mein Klinik-Tag zieht sich mehr oder weniger von 8 Uhr morgens bis 23 Uhr abends hin. Es ist mein Jahrestag der Entschleunigung.

Keine Klagen

Warten auf den nächsten Test
Warten auf den nächsten Test

Dabei kann und will ich mich nicht beklagen. Denn die Wartezeiten resultieren nicht aus zu wenig Personal, zu viel Bürokratie oder Lustlosigkeit der Beteiligten (im Gegenteil: Ärzte und Personal dort sind größtenteils freundlich, engagiert und kompetent – was für eine selten gewordene Kombination!). Sie liegen in der Natur der Sache, bei vielen unterschiedlichen Stationen, vielen Patienten, vielen Messungen, zwischen denen gelegentlich etwas Zeit vergehen muss.

Ich will mich schon deshalb nicht beklagen, weil ich hier in den Genuss modernster Medizin komme und mich in die Hände von bestens ausgebildeten Experten begebe. Und das Schönste daran: Ihr alle finanziert mir das. Mit meiner 08/15 gesetzlichen Krankenversicherung bleibt mir zwar der Chefarzt vorenthalten (kein Verlust, vermute ich), aber ansonsten schnurrt die Highend-Medizin-Maschinerie für mich, dass es eine Freude ist.

Distanzierte Vertrautheit

Zum Notausgang geht's bergab
Zum Notausgang geht’s bergab

Wenn man seit fast zehn Jahren einmal im Jahr einen Tag (und eine halbe Nacht) hier verbringt, hat das einen erstaunlichen Effekt: Es entsteht eine distanzierte Vertrautheit. Ich kenne einige Menschen hier seit fast zehn Jahren. Und ich kenne sie natürlich nicht, schließlich haben wir 364 Tage im Jahr nichts miteinander zu tun. Zehn Tage in zehn Jahren genügen aber, um ein bisschen was mitzubekommen (und je mehr man warten muss, desto schärfer sind die Sinne für Details).

Ich weiß zum Beispiel, dass der medizinisch-technische Assistent Herr F. von seinen Kollegen nicht ganz ernst genommen wird und als ein bisschen wunderlich gilt. Ich weiß auch, dass er das weiß und dass ihm das egal ist. Ich weiß, dass er Unzuverlässigkeit nicht leiden kann, dass ein Patienten-Stau ihm Unbehagen bereitet wie anderen Leuten ein übervoller Outlook-Posteingang, und dass er eine geradezu rührende Leidenschaft im Umgang mit seinen Apparaten entwickelt. (Und wehe, ein Kollege hat sie verstellt!) Ich weiß sogar, wo er vor zwei Jahren im Urlaub war. Über all das habe ich natürlich nie mit ihm geredet, wir haben in den Jahren kaum ein paar Worte miteinander gewechselt. Aber wer wartet, hört und sieht eben, was um ihn herum passiert, geredet wird und an nonverbaler Kommunikation stattfindet.

Im Keller
Im Klinik-Keller

Diese distanzierte Vertrautheit geht so weit, dass ich manche Leute vermisse, wenn sie nach Jahren plötzlich nicht mehr da sind. Wie Frau Dr. P., zu der man in den Klinik-Keller herabsteigen musste. Dort hauste sie in ihrem höhlenartigen Untersuchungszimmer und machte irgendwelche Tests. Bis sie eines Tages Jahres nicht mehr da war. Sie war weg, die Tests waren wohl nicht mehr nötig und die Höhle war umfunktioniert. Das Ende einer jahrelangen Bekanntschaft, die nie eine war.

Veränderungen und Konstanten

Interessant auch, wie sich so eine Klinik-Abteilung im Laufe eines Tages verändert. Morgens eine bestimmte Betriebsamkeit, die typisch für Systeme ist, die gerade hochgefahren werden; am Vormittag Massenbetrieb mit sich stapelnden Patienten; nachmittags wird’s ruhiger, vereinzelt neue Patienten und Menschen wie ich im Warte-Modus; abends und nachts ist man dann allein am selben Ort, an dem vor Stunden noch Hochbetrieb herrschte – vielleicht mal ein Notfall mit blutigem Auge oder dickem Verband, ansonsten: Einsamkeit.

Auf Teppich folgt PVC
Auf Teppich folgt PVC

Das einzige, was sich nie verändert, in den letzten zehn Jahren nicht und in den 30 Jahren davor auch nicht: jener ganz spezielle Krankenhaus-Flair. Graue Wände. Fragwürdige Kunstwerke an den grauen Wänden. Graue Metall-Stühle. Pragmatischer PVC-Boden, ebenfalls grau oder blau, der in allen Kliniken dieser Welt auf Grund eines einzigen Alleinstellungsmerkmals ausgewählt wird: Wischbarkeit. Im Empfangsbereich jener graue oder braune Teppich, den man aus Schulen und öffentlichen Gebäuden der 70er Jahren kennt. In der Ecke der obligatorische verkümmerte Gummibaum. (Jede andere Pflanze würde für Auflockerung sorgen, der Gummibaum indes komplettiert und homogenisiert den Krankenhaus-Flair derart, dass lediglich seine Abwesenheit als (verstörende) Auflockerung empfunden würde.)

Die ganze Einrichtung sieht derart klischeeartig nach Krankenhaus aus, dass man sich unweigerlich umschaut, ob man nicht in der lieblos aus Versatzstücken und Gemeinplätzen zusammengeschusteren Kulisse einer billigen Krankenhaus-Serie gelandet ist. Aber Wirklichkeit schlägt Fiktion, einmal mehr.

Entdeckungen

Lesezirkel vor grauem Stuhl und PVC
Lesezirkel vor grauem Stuhl und PVC

Und die Zeit ist hier nicht nur in Sachen Inneneinrichtung vor dreißig, vierzig Jahren stehen geblieben. Digitalisierung? Fehlanzeige. Hier herrscht noch Print in Form der unvermeidbaren Lesezirkel-Zeitschriften, dass jedem alten Verleger und Internet-Skeptiker das Herz aufgehen müsste. Ein WLAN für die Wartenden existiert natürlich nicht. Und perfiderweise wurden auch LTE und 3G an der Krankenhaustür abgewiesen wie einstmals der schreckliche Balrog durch den Zauberer Gandalf: Ihr kommt hier nicht vorbei! Die meisten wartenden Patienten blicken traurig auf den einzig verbliebenen Edge-Stummelbalken ihres Smartphones, stecken das Gerät alsbald wieder weg und widmen sich den zerfledderten Lesezirkel-Exponaten aus dem präkambrischen Medienzeitalter.

Rohrpost-Bedienungsanleitung
Rohrpost-Bedienungsanleitung

Ich hingegen, dank jahrelanger Erfahrung vom Status quo nicht überrascht, nutze die Wartezeit zur Erforschung alter und neuer Krankenhaus-Details. Diesmal etwa habe ich eine Bedienungsanleitung für das Rohrpost-System des Krankenhauses entdeckt. Nein, ich scherze nicht. Rohrpost. Ich bin mir nicht sicher, ob ein Mitarbeiter mit Sinn für Humor und die Absurdität des Alltags sie dorthin gehängt hat. Oder ob sie einfach schon immer dort hing und vergessen wurde. (Oder ob sie schon immer dort hing und gar nicht vergessen wurde, weil Rohrpost neben Microfiche und Paternoster-Aufzügen eines jener Systeme ist, die in öffentlichen Einrichtungen immer noch Fans und Anwender haben.)

Für solche Entdeckungen bleibt Zeit beim Warten. Und fürs Verfassen des einen oder anderen Blogbeitrags.

3 Gedanken zu “Ein Tag im Jahr

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