Mehr Komplexität bitte!

Der tägliche Blick ins Web lässt mich zurzeit ein bisschen verzweifeln. An Social Media und an vielen anderen Medien eigentlich auch. Der Grund: die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit, sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen …

Wer Dramen von Shakespeare, späte Streichquartette von Beethoven oder moderne amerikanische Fernsehserien mit geteilter Aufmerksamkeit und einem Second Screen in der Hand konsumieren will, wird sich schwer tun. Das spricht für diese Inhalte. Und der zeitlose Erfolg von Shakespeare und Beethoven sowie der sehr aktuelle Erfolg verschiedener amerikanischer Serien von The Wire bis Breaking Bad zeigt, dass es viele Menschen gibt, die Lust auf Komplexität haben. Um bei Letzteren zu bleiben: Je anspruchsvoller das Drehbuch, je komplizierter die Handlung, je länger eine Story entwickelt wird, desto besser. Immer mehr Konsumenten wollen durch solche Geschichten herausgefordert werden und wenden sich gequält von 08/15-Sendungen ab, die innerhalb von 45 Minuten Klischees und Langeweile verbreiten, dafür aber selbst Neandertaler, Pegida-Anhänger und Verschwörungstheoretiker mit Alu-Hut intellektuell kaum herausfordern.

Komplexität, Teufel, Weihwasser

Rätselhafterweise gibt es im (Social) Web rasante gegenteilige Tendenzen. Man könnte meinen, es gebe einen großen Masterplan all jener, die ins Web schreiben, von Lieschen Müller bis zum Online-Journalisten, der für (vermeintlich) renommierte Publikationen schreibt. Ihr gemeinsames Ziel ist: die Simplifizierung der Welt.

Sie meiden Komplexität wie der Teufel das Weihwasser. Sie sind wie Fast Food-Produzenten: Alles, was kompliziert ist, Zeit und eine gewisse Expertise braucht, wird ersetzt durch Aromastoffe aus dem Reagenzglas und Glutamat. Jeder Depp kann so zum Koch werden oder zumindest so tun, als sei er einer.

Natürlich gab es schon immer Welt-Vereinfacher, sie waren aber vor allem im Politiker- und Lobbyisten-Lager zu finden. Viele Medien zeichneten sich gerade durch eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Komplexitäts-Reduzierern und Phrasen-Dreschern aus. Das war im Zeitalter vor Online.

Simplifizierungs-Monumente unserer Zeit

Seit alles online ist und zuerst online passiert, fehlt offenbar vielen die Zeit, die Lust und zunehmend auch die Fähigkeit zum Nachdenken. Und wenn nachgedacht wird, dann vor allem mit einem Zweck: Wie lässt sich das, was wir sagen wollen, noch mehr vereinfachen, damit wir auch garantiert niemanden überfordern? Die Ergebnisse sind all überall im Web zu bestaunen. Zum Beispiel Millionen von bunten, aber völlig sinnlosen Infografiken. Das Social Web liebt Infografiken, sie sind die Simplifizierungs-Monumente unserer Zeit. Kein Mensch beschäftigt sich intensiver mit ihren Inhalten (was meistens auch gar nicht lohnen würde), aber alle teilen und liken sie, als gebe es kein morgen.

Dass Lieschen Müller ein eher simples Gemüt hat, sich nach simplen Wahrheiten sehnt und – durchs Social Web vom Konsumenten zum Produzenten geworden – selbige in der Welt verbreitet, ist nachvollziehbar. Dass gestandene Journalisten ihr immer mehr nacheifern, ist ein Armutszeugnis.

Drei Beispiele, damit ihr meinen zarten Unmut nachvollziehen könnt:

Stinkefinger, Equal Pay Day, Facebook-Abmahnung

Vor einer guten Woche reduzierten Günter Jauch und die für einigermaßen seriösen Journalismus bekannte ARD die maximal komplexe Griechenland-Krise zur maximal läppischen Stinkefinger-Affäre. Das Volk empörte sich, viele weitere Medien tauchten auf ein ähnliches Niveau ab, bis Jan Böhmermann allen seinerseits den Stinkefinger zeigte und die Farce als Farce entlarvte.

Vor wenigen Tagen war „Equal Pay Day“, der „Internationale Aktionstag für gleiche Bezahlung von Frauen und Männern“. Die Organisatoren, einige Politiker und zahlreiche Medien wie Spiegel Online haben keine Lust, sich mit dem Slow Food-Thema Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu beschäftigen und servieren lieber Propaganda-Junkfood. Als Geschmacksverstärker dient der Mythos von 22 Prozent Lohnunterschied, neudeutsch auch Gender Pay Gap.

Und just heute rotiert die Medien-Maschinerie wieder vor sich hin und produziert Schlagzeilen rund um die Abmahnung eines Nutzers, der den Facebook-Share-Button genutzt hat. Hier sind wir im Spielfeld der Juristen unterwegs, und prompt wird es kreativ, kurios und turbulent. Denn wenn Journalisten ohne juristisches Grundwissen solche Fälle für ihre Medien verarbeiten, kann das nicht gut gehen. Schnell rollt eine Hysterie-Welle durchs Web, Lieschen Müller fürchtet, morgen in den Knast zu kommen, wenn sie noch einmal Facebook aufruft, und differenzierte Beiträge zum Thema haben in dieser Kakophonie kaum eine Chance, wahrgenommen zu werden.

Chancen auf Entschleunigung?

Wird sich das jemals wieder ändern? Gibt es Chancen auf Entschleunigung? Verzichten wir bald mal wieder auf diesen Social-Web-News-Porno? Gönnen wir uns wieder mehr Komplexität und Nachdenklichkeit?

Einerseits: Nein, keine Chance. Es ist, wie’s ist.

Andererseits: Wer weiß. Es gibt ja auch immer mehr Leute, die keine Lust auf Serien aus dem ZDF-Vorabendprogramm haben und sich statt dessen in einer Marathon-Sitzung alle Staffeln von Mad Men oder Boardwalk Empire anschauen. Es gibt Leute, die sich auf Komplexität freuen. Und Medien wie Scienceblogs, den Soziopod, die Krautreporter oder Substanz, die für diesen Bedarf ein Angebot schaffen. Das klappt zwar noch nicht perfekt (und für mich persönlich haben die Krautreporter auch nicht das richtige Angebot), aber es ist ein Anfang …

12 Gedanken zu “Mehr Komplexität bitte!

  1. Seit ein paar Jahren predigt unsere UX-Branche (inkl. mir) immer schlau daher: „Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern nichts mehr weglassen kann“ (Antoine de Saint-Exupéry). Der Satz ist nach wie vor richtig, aber man überliest schnell einen wichtigen Teil: Nicht nur „zu viel reinpacken“, sondern auch „nichts wichtiges weglassen“.
    Die zu starke Vereinfachung ist nicht nur ein Problem der aktuellen Gesellschaftsdiskussionen. Die Erwartungshaltung ist mittlerer Weile nicht, dass es einfach ist, sondern dass man doch bitte sein Hirn nicht benutzen muss.
    Ein Beispiel: Wer hat sich ernsthaft mal mit einem komplexen Thema wie Datenschutzeinstellungen bei Facebook auseinandergesetzt? In der Regel lautet die Antwort: „Das ist so schlecht gemacht, ich hab gleich aufgegeben“. Leute wie ich versuchen (mal besser mal schlechter) solche Masken einfach zu gestalten, aber an irgendeinem Punkt muss der Nutzer halt auch mal (mit)denken.
    Ich hab jetzt übrigens meinen Foliensatz aktualisiert: „Mache die Dinge so einfach wie möglich – aber nicht einfacher“ (Albert Einstein).

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    • Gerade im Bereich UX ist die Aussage „Das ist alles viel zu kompliziert“ mit Sicherheit oft eine Schutzbehauptung. Die Wahrheit ist: Man war – gelegentlich – zu faul, sich auch nur minimal in ein Thema einzuarbeiten und einzudenken. Nicht alles muss selbsterklärend sein. Auch nicht Geräte des täglichen Bedarfs. Auch nicht aweb-Anwendungen. Schon ga nicht Facebook … Insofern gefällt mr das Einstein-Zitat gut.

      PS Gert, du brauchst definitiv einen hübscheren Avatar ;)

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  2. Ja, da ist viel Wahres dran. Wenn man die Darstellung im Internet ins Visier nimmt, denkt man aber doch auch an Defizite in den traditionellen Medien. In Zeitungen und Zeitschriften habe ich besonders die geistlose Illustration um der Illustration willen gefressen: Es geht um Geld? Abbildung Geldscheinbündel, Elterngeld? Vater mit Kind. Dagegen ist jede Infographik Gold. Auch verwechseln manche Autoren oder Redaktionen umfassende Abhandlung mit einer großen Zahl von Wörtern. Daher ist in so manchem Die-Zeit- oder Süddeutsche-Zeitung-Artikel nach einem Drittel des Textes alles gesagt, nur noch nicht redundant und lang genug, so daß es in der immergleichen Art monoperspektivisch und monohypothetisch zäh weitergeht. Was hat das mit Christians Blog zu tun? (1) Es treibt einen ins Internet, wo man interessante Blogs liest. (2) Man fragt sich, in welcher Richtung hier nach unten nivelliert wird, von den traditionellen Medien Richtung Internet oder andersherum? Grüßle!

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  3. Ich habe diesen Beitrag sehr gerne gelesen – kurzweilig, interessant und anregend. Vieles würde ich direkt so unterschreiben. Und dennoch schießt er meiner Meinung nach an der einen oder anderen Stelle über das Ziel hinaus. Besonders da wo er, meiner Ansicht nach, selbst die Dinge sehr vereinfacht und eine gewisse „intellektuelle“ Überheblichkeit durchblitzt. Natürlich liest es sich mit einer mehr oder weniger aktuellen Pointe, die so schön „einfache“ Bilder im Kopf hinterlässt, angeregter (Thema UX). Ich bezweifle jedoch, dass es der Sachlichkeit zuträglich ist „…Neandertaler, Pegida-Anhänger und Verschwörungstheoretiker mit Alu-Hut…“ in einen Topf zu werfen und diesen dann auch noch pauschal ins intellektuelle Abseits zu stellen.

    An dieser stelle möchte ich darauf hinweisen, dass ich weder auf Verschwörungstheorien stehe, mich in gedanklicher Nähe der PEGIDA bewege, noch ein Neandertaler bin.

    Was die Informationsgrafiken (im weitesten Sinne) betrifft, würde ich tatsächlich behaupten, dass sie das Werkzeug Nr. 1 sind. Und zwar um Komplexe Sachverhalte zu vereinfachen und auf ein übersichtliches Maß herunterzubrechen. Ich kann daran auch nichts verwerfliches erkennen. Solange man sie als das sieht was sie sind – Vereinfachungen komplexer Zusammenhänge um einen groben überblick zu schaffen – nicht mehr und nicht weniger. Auch weniger komplexe Sachverhalte lassen sich, wenn sie grafisch gut aufbereitet sind, meist effektiver und effizienter aufnehmen, verstehen und behalten – das entspricht eher unserer Natur. Das Problem ist also nicht die Infografik oder ihr häufiger Einsatz, sondern die Interpretation ihrer Aussagekraft. Ich glaube keiner würde behauten, dass Teaser zu häufig verwändet werden und überflüssig sind, um abzuwägen ob sich der dahinter verbergende Artikel zu lesen lohnt. Oder das die Zusammenfassung z. B. einer wissenschaftlichen Publikation nutzlos ist und den Inhalt verstümmelt. Man sollte sich eben nur im klaren sein, dass man mit dem Teaser nicht den Artikel und mit der Zusammenfassung nicht die gesamte Publikation gelesen hat.

    Zuletzt möchte ich noch zu bedenken geben, dass graden wir im deutschsprachigen Raum immer noch ausreichend Anlass haben, besonders beim Verfassen von Texten – die Zusammenhänge mögen mehr oder weniger komplex sein – stets auf eine einfachere Konstruktion zu achten; da wir, ich würde behaupten historisch geprägt, dazu neigen, meist eher sinnbefreit, möglichst viele Aspekte zwischen zwei Punkten (hier beziehe ich mich auf Satzzeichen) aufzureihen, um, so habe ich zumindest meist die Erfahrung gemacht, der Umwelt mitzuteilen, dass die eigenen intellektuellen Fähigkeit – man kann durchaus hinterfragen, ob dem wirklich so ist – die des gemeinen Volkes um Längen überragen und man gerne damit protzt. Selbstverständlich sollte der Sachgehalt darunter nicht leiden.

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    • Ich glaube, das Problem an den Infografiken liegt daran, dass es so viele (schlechte) gibt und dass sie sehr gerne geteilt und weiterverbreitet werden. Natürlich gibt es wunderbare, interessante Infografiken, aber sie sind meiner Wahrnehmung nach eher die Ausnahme. Um sie zu erstellen, baucht man Zeit, um vorher nachzudenken, und häufig auch Geld, damit sie gut gestaltet sind. Die meisten Infografiken sind dagagen 08/15. Es gibt ja längst kostenlose „Infografik-Generatoren“ im Web, mit denen sich jeder eine schnitzen kann. Ich gebe aber zu, das ist kein spezielles Infografik-Problem, sondern ein Generelles Kommunikations-Thema: Wenn man sich wenig Mühe gibt, kommt selten etwas Vernünftiges dabei raus …

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  4. „Dramen von Shakespeare, späte Streichquartette von Beethoven oder moderne amerikanische Fernsehserien“ in einem Atemzug zu nennen, halte ich für gewagt. Insbesondere Letztgenannte zeichnen sich auch durch ein reproduzierbares Schema aus, das sich im Laufe der Zeit abnutzen wird.
    Ansonsten stimme ich Dir zu, wenngleich ich diese Entwicklungen eher als ein Sichtbarmachen der Dummheit der Massen interpretiere. Die Menschen sind aber nicht dümmer geworden, Web 2.0 gibt ihnen halt ein Sprachrohr und entdeckt sie als Zielgruppe ;-)
    Zum Glück gibt es den/ die eine oder andere BloggerIn, die hin und wieder Sinnvolles posten und so die Informationsqualität leicht anheben :-)

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    • Die Beispiele sind pro Kategorie gemeint: Shakespeare im Vergleich dazu, was uns sonst so auf Bühnen geboten wird, Beethovens Streichquartette im Vergleich zu Rondo Veneziano, US-Serien im Vergleich zum deutschen Vorabendprogramm … Pro Genre ist das schon eher anspruchsvolle Kost. Inwiefern man nun Beethoven mit Breaking Bad vergleichen kann oder soll: keine Ahnung. Immerhin folgen auch Shakespeares Dramen reproduzierbaren Schemata (mithin sogar denselben wie eine gut gemachte Serie), das würde ich daher als Kriterium für geringere Qualität nicht unbedingt gelten lassen …

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      • Nach dem Absenden hatte ich mir auch schon gedacht, das der Vergleich vielleicht gar nicht so falsch ist. Was ich meinte war, dass komplexe Serien ein Werk eines streng organisierten Teams sind. Beethoven und Shakespeare hingegen Einzelkämpfer die ein Lebrnswerk hinterlassen haben, das jeweils eine eigene Note trägt. Was nicht heißen soll, dass gut gemachte Serien einfach herzustellen sind. Aber hast Du Dich schon mal gefragt was genau Dich an eine bestimmte Serie fesselt? Ist das ein Zufallsprodukt, oder folgt es einer Systematik. Mir fällt mehr und mehr auf, das auch bei Serien, die mir auf Anhieb Spaß machen, irgendwann der Punkt ereicht ist, wo man ein Schema erkennt und es damit orhersehbar wird. Vielleicht sind deshalb Mini Serien fasst besser, wenn sie eine Geschichte einfach stringent in wenigen Folgen zuende erzählen.
        Andererseits überfordert Komplexität die meisten Menschen. Ich kenne gebildete Leute, die nicht in der Lage sind zwei Sachverhalte in einer E-Mail zu beantworten. Denen schreibe ich dann auch die Themen einzeln in zwei Mails verpackt ;-)

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    • Ja, stimmt. Daher sind die besten Serien die, die zu Ende sind, bevor sie vorhersehbar werden. Jüngst zum Beispiel. True Detective, 8 Folgen, Ende. Nächste Staffel mit anderen Schauspielern, anderer Handlung etc. Ebenfalls interessant, dass immer mehr (gute) Serien nur noch 10 Folgen pro Staffel haben. Das wird alles kompakter als früher. „24“ fand ich früher als Serie sehr gut und innovativ, aber 24 Folgen pro Staffel? Herrjeh, das werden wir uns heute kaum noch anschauen können oder wollen. Das wird alles künstlich in die Länge gezogen und die Masse an Cliffhangern nervt bald. Jedenfalls interessant, wie schnell sich unsere Sehgewohnheiten ändern …

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