Mit Helmut Schmidt durchs Jahr: Emotion und Vernunft

Zu Helmut Schmidts Zeiten als Bundeskanzler gab es noch kein Social Web, keine digitalen Erregungswellen und keine Shitstorms. Trotzdem hat seine Politik die Massen bewegt und manche seiner Entscheidungen würde heute im Web erhebliche Empörungsbeben auslösen …

Angela Merkel, die ungeschickt mit einem Flüchtlingsmädchen umgeht. Sigmar Gabriel, der sich mit Pegida-Anhängern unterhält. Irgendeine kleine Äußerung von Joachim Gauck. Und schon tobt der Shitstorm im Web. Die Reizschwelle vieler Internetnutzer ist heutzutage niedrig, daher wird die Mücke schnell zum Elefanten und die Kritik schnell zum Empörungs-Tsunami.

Wann immer ich etwas über Helmut Schmidts Politik im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluss lese, muss ich daran denken, was für Reaktionen diese Politik heute auslösen würde. Zur Erinnerung: Schmidt (und viele andere Politiker) sahen Europa in den 70er Jahren durch moderne sowjetische SS20-Raketen mit Nuklearsprengköpfen bedroht und reagierten daraufhin mit einer doppelten Strategie: einerseits das Angebot zu Abrüstungsverhandlungen, andererseits die Drohung, beim Scheitern der Verhandlungen selbst mit atomaren Raketen vom Typ Pershing II aufzurüsten. Zuckerbrot und Peitsche, Verhandlung und Drohung, Abrüstung und Aufrüstung.

Heute sind sich die Historiker weitgehend einig, dass die Strategie richtig war und letztlich Glasnost und Perestroika ermöglicht, mithin das Ende das kalten Krieges eingeleitet hat.

Richtig, aber extrem unpopulär. Schmidts Politik zog Friedensdemonstrationen von gewaltigem Ausmaß nach sich, Hunderttausende gingen auf die Straße und die Grünen wuchsen im Rahmen dieser Bewegung zu einer relevanten Partei. Hätte es das tendenziell etwas linkslastige Social Web damals schon gegeben: Es hätte als digitaler Verstärker die Friedensbewegung bejubelt und Schmidt als Kriegstreiber verteufelt.

Interessant vor diesem Hintergrund, wie Schmidt selbst die damalige Stimmung bewertet:

Gar nicht gut sind jedoch die irrationale Angst und das seelische Zerwürfnis gewesen, die der NATO-Doppelbeschluss in den frühen achtziger Jahren in Teilen unseres Volkes ausgelöst hat. Sowohl gegen mich, aber später ebenso gegen Bundeskanzler Kohl gerichtet, versammelte zweimal eine sich selbst als Friedensbewegung verstehende Opposition mehr als 100.000 demonstrierende Menschen in Bonn. Politiker, Pfarrer, Schriftsteller und andere Intellektuelle stellten uns als Kriegstreiber oder Hasardeure dar. Sie machten sich zu Propagandisten der Angst vor dem atomaren Krieg, dem wir angeblich Vorschub leisteten. Die eigene Angst öffentlich zu bekennen, wurde für manch einen zur modischen Attitüde. (…) Es war eine psychotische Bewegung, wesentlich verstärkt durch die Berichterstattung der Massenmedien.

Die Geschichte des NATO-Doppelbeschlusses bleibt ein Lehrbeispiel dafür, dass auch in einer Demokratie moralisch argumentierende Emotionen, untermischt mit Demagogie, durchaus stark genug werden können, die abwägende Vernunft beiseite zu schieben.

Helmut Schmidt: Außer Dienst. Eine Bilanz, München 2008, S. 165 f.

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Bildnachweis: Bundesarchiv, B 145 Bild-F056098-0012 / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA 3.0

Ein Gedanke zu “Mit Helmut Schmidt durchs Jahr: Emotion und Vernunft

  1. … korrekt, Christian – nehme ich als Thema genauso so wahr bzw. habe öfter drüber nachgedacht ! Ein unzulässiger Rückschluß wäre aber wohl, das gute Politik mit ruhiger Hand und Verstand in der heutigen SM-Aufgeregtheit gar nicht mehr drin ist. Heute muß man es einfach anders angehen. Vielleicht sogar wie Frau Merkel, die gerne plötzlich Alternativloses präsentiert (Atomkraft, Flüchtlinge). Interessant wäre das Gedankenspiel, wie Schmidt seine damalige Haltung im heutigen Netz kommuniziert hätte. Ich folge Christian Lindner auf Twitter und was der da abfackelt, hätte sich Helmut Schmidt nie angetan: Viel zu eitel, viel zu oberflächlich, viel zu verkürzt. Aber aus heutiger Sicht macht Lindner das gut und erfolgreich. Für die Schmidtsche Nachdenklichkeit und Fähigkeit zu Schweigen ist kein Platz mehr … heute mußt Du ein anderer Politikertyp sein und andere Mittel wählen, wenn Du etwas bewegen willst. Gute Ergebnisse sind dabei nicht ausgeschlossen, aber so wie damals kommen die nie wieder zu stande.

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