Blühende Landschaften

Eine kurze Reise durch Sachsen-Anhalt und Thüringen. 26 Jahre nach der Wiedervereinigung. Und 26 Jahre nachdem ich zuletzt in dieser Gegend war …

Der Anlass damals war eine Klassenfahrt, die meine Schule mit den 11. Klassen traditionell in die DDR machte. Wie’s die Geschichte wollte, wurde daraus eine Klassenfahrt in die fast ehemalige DDR, in ein Land, das politisch und wirtschaftlich am Ende war. Dass das wiedervereinte Deutschland vor erheblichen Herausforderungen stand, hat Helmut Kohl damals gewusst und mit – sagen wir mal – Pfälzer Optimismus wie folgt formuliert:

Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.

Die Anstrengung war gewaltig und „bald“ dauerte Jahrzehnte.

Und heute? 26 Jahre später waren wir im Harz und in Erfurt. Und natürlich springt sofort der Ossi-Radar des Wessis an: Wo sieht man sie noch, die alte DDR? Wo wird sie noch nostalgisch verklärt? Wo sind die ganze AfD-Wähler, die früher alles besser fanden, als noch keine sieben Flüchtlinge irgendwo am Stadtrand untergebracht waren? Wo ist die postfaktische Gesellschaft, die heute undankbar der Vergangenheit hinterher jammert und die Zumutungen der Jetztzeit beklagt?

Kurz gesagt: Nirgendwo.

Zwischen Wernigerode, Quedlinburg und Erfurt sind sie heute Realität, die blühenden Landschaften und Stadtbilder. Zumindest wenn man die Impressionen einer kurzen Reise als Maßstab nimmt …

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Wernigerode im nördlichen Harz: eine Altstadt wie aus dem Bilderbuch. Und eine Stadt die mehrfach Glück hatte. Etwa 1945, als Oberst Gustav Petri sich weigerte die Stadt bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen, dafür seinen eigenen Tod in Kauf nahm – er wurde für die Befehlsverweigerung in den letzten Kriegstagen hingerichtet – und Tausenden das Leben rettete und die Stadt vor der Zerstörung bewahrte, da die US-Armee kampflos einmarschieren konnte. Glück aber auch 1989, als die Wende die völlig heruntergekommene Bausubstanz vor dem kompletten Verfall bewahrt hat.

Ähnlich Quedlinburg: eine geradezu unerhört knuffige Altstadt mit einem Café neben dem anderen, in denen leider in der Regel Industriekuchen und schlechter Automatenkaffee verkauft wird – auch das ein gesamtdeutsches Phänomen. Wenn man aber lange genug sucht, wird man fündig, wie überall im Land.

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Apropos Essen: Wir hatten den starken Eindruck, dass im Harz kulinarisch die Zeit stehen geblieben ist. Hier wird noch gekocht wie zu Zeiten der Altvorderen. Schnitzel, in Fett ausgebacken. Dazu Sahnesauce. Das Ganze mit Harzer Käse überbacken. Plus Bratkartoffeln. Und viele Zwiebeln. Börps. Da hilft hinterher nicht mal mehr einer der grässlichen Harzer Kräuterschnäpse, die schmecken wie destillierter Kiefernwald.

Auf Wikipedia habe ich dann gelernt, was die Sachsen-Anhaltinische Küche als Spezialitäten ausweist: Schmorgerichte mit „Kartoffelklump“. In Mehlschwitze gebundenes Gemüse. Mit gesüßtem Malzkaffee übergossene Brotwürfel. Suppe mit Blutwursteinlage. Schönen Dank auch …

Ganz anders übrigens das kulinarische Programm in Erfurt, der Landeshauptstadt Thüringens! Großartige regionale Küche, teils mit Slow Food Label. Sensationelles Eis und kuschelige Feinkostläden auf der Krämerbrücke. Bier aus lokalen Brauereien und sehr ordentlicher Wein aus dem Saale-Unstrut-Gebiet.

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Und da wir also beschlossen haben, den Harzer Käse links liegen zu lassen, assoziieren wir den Harz künftig in erster Linie mit: Wald. Durchzogen von Grantitbrocken, als hätten Riesen mit Murmeln gespielt, und Sandsteinklippen mit herrlicher Aussicht.

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Und Erfurt: Was für eine Perle. Nachdem wir drei Tage kreuz und quer durch die Stadt gezogen sind und mit guten alten Freunden jede Menge Erinnerungen haben aufleben lassen, haben wir die Stadt ins Herz geschlossen.

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Was uns neben Architektur, Flair, Geschichte und Essen in bester Erinnerung bleiben wird: die sensationelle Freundlichkeit der (meisten) Erfurter, mit denen wir zu tun hatte. Von der Vermieterin unserer Airbnb-Wohnung über die Stadtführerin mit bulgarischen Wurzeln bis zum Wirt, der mit größter Anstrengung noch versucht hat, uns in seinem völlig überfüllten Lokal unterzubringen.

Anekdote gefällig? Wir stehen am Bahnhof etwas ratlos vor dem Fahrkarten-Automaten für die Straßenbahn. Neben dem Automaten eine 16-Jährige, die auf die Straßenbahn wartet: „Kann ich Ihnen helfen?“ Ernsthaft. Die Teenagerin erklärt uns daraufhin mit Engelsgeduld, welche Fahrkarten wir brauchen, wie und wo wir sie „knipsen“ müssen, und übrigens das Geld sollen wir hier im Automaten einwerfen. Wir müssen von so viel Freundlichkeit komplett verwirrt einen wirklich hilfsbedürftigen Eindruck gemacht haben. Oder wir haben inzwischen ein Alter erreicht, das in jungen Erfurtern den Impuls zur guten Pfadfinder-Tat weckt. Den Senioren mal die Technik erklären. Und über die Straße helfen. Und so.

Die Jugend von heute! Postfaktisch betrachtet war früher ja wirklich alles besser …

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Ach ja, dann war da in Erfurt noch ein komplett überflüssiges „Oktoberfest“. Laute Volksmusik, blinkende Lichter, penetranter Geruch nach Pommes und gebrannten Mandeln, tendenziell angetrunkene und zu laute Menschen. Auch das also ganz wie im Rest der Republik.

2 Gedanken zu “Blühende Landschaften

  1. Dem ist wohl nichts hinzuzufügen. Ich hoffe, es wurde Brückentrüffel beim Eiskrämer auf der Krämerbrücke probiert… :D Und für ein kulinarisches Highlight beim nächsten Mal einfach in Ilsenburg im Landhaus zu den Rothen Forellen vorbei schauen. Garantiert keine Harzer Käse. ;)

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