Mit Helmut Schmidt durchs Jahr: Internet und Gelassenheit

Als Tim Berners-Lee 1989 seine Vorstellungen vom World Wide Web präsentierte, war Helmut Schmidt schon über 70 Jahre alt. Kein Wunder, dass er der neuen Technik eher mit Skepsis begegnete …

Immerhin war ihm klar, dass das Web keine Kleinigkeit ist, sondern erhebliche Veränderungen mit sich bringt:

Die dritte wesentliche Veränderung der Welt lässt sich mit dem Stichwort Internet umschreiben. Die vollständige Vernetzung aller mit allen führt zu Konsequenzen, die wir einstweilen noch nicht erahnen. Was das für die Zivilisation bedeutet, weiß ich nicht, wohl aber sehe ich deutlich, dass wir durch die neuen Kommunikationsmittel in eine Krise der Demokratie hineinlaufen können. Das hängt auch mit der zunehmenden Verstädterung zusammen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebte die Mehrheit der Menschen in Dörfern, jeder hatte seine Hütte oder sein Häuschen. Heute lebt die Mehrheit in Städten und in Ballungsräumen von zehn oder zwanzig Millionen Menschen. Hier wächst, potenziert durch die sozialen Netzwerke, die Gefahr der Verführbarkeit. Je mehr Menschen auf einem Fleck zusammenwohnen, desto leichter sind sie massenpsychologisch zu beeinflussen – auch und gerade durch falsche Vorbilder.

Dieser Analyse kann ich nicht so recht folgen. Städte und Ballungsräume sind meines Erachtens keine Brutstätte für antidemokratische Tendenzen, im Gegenteil. Wo findet denn in Großstädten heute Verführung statt (außer vielleicht in Bereich des Konsums)? Auf dem platten (sächsischen) Land schaut das gelegentlich anders aus. Und auch im Internet kann ich keinen Auslöser für eine „Krise der Demokratie“ erkennen. Ja, Volkes Stimme im Social Web ist manchmal schwer zu ertragen, es gibt Meinungsvielfalt inklusive Hetze und Dummheit, aber das ist keine Gefahr für die Demokratie.

Dennoch kann man von Schmidt auch lernen, wie man sich im Web verhalten sollte. Er war ja ein großer Verehrer Mark Aurels und des Stoizismus. Gelassenheit und Vernunft, danach hat er gestrebt. Und was er sich fürs politische Handeln vorgenommen hat, können wir uns ebenfalls vornehmen, mindestens für die Art und Weise, wie wir im immer aufgeregter hyperventilierenden Social Web agieren:

Das Gegenteil von Gelassenheit ist Aufgeregtheit, Nervosität – ein Zustand, in dem man im äußersten Fall nicht mehr Herr seiner selbst ist. Gelassenheit bewahrt einen davor, zu schnell zu entscheiden und dabei Fehler zu begehen. Sie ist eine Hilfe, fast eine Voraussetzung für die Anwendung der Vernunft: Nur wer die innere Gelassenheit mitbringt, kann auf die Stimme der Vernunft hören.

Helmut Schmidt, Was ich noch sagen wollte, München 2015, Vorrede und Kapitel „Die Kunst der inneren Gelassenheit“

Mehr lesen? Bitteschön: Mit Helmut Schmidt durchs Jahr

Bildnachweis: Bundesarchiv, B 145 Bild-F048644-0025 / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA 3.0


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Ein Gedanke zu “Mit Helmut Schmidt durchs Jahr: Internet und Gelassenheit

  1. „Nur wer die innere Gelassenheit mitbringt, kann auf die Stimme der Vernunft hören.“
    Leider wird Gelassenbleiben immer schwieriger, Herr Schmidt ! Allerdings hat ihre Gelassenheit wirklich Maßstäbe gesetzt und ich übe an dieser Qualität (mit mäßigem Erfolg;-)

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