Zitat am Freitag: Postfaktisch

Zum Wort „postfaktisch“ gab es in meinem digitalen Umfeld in letzter Zeit eher kritische Stimmen. Blödsinn sei das. Stimmt gar nicht. War schon immer so … Ich sehe das anders.

Zunächst sollte man sich doch mal klar machen, dass „postfaktisch“ ein Begriff ist und keine Meinung. Das wird, glaube ich, oft durcheinander geworfen. Ein Begriff ist dann gut und hilfreich, wenn er eine komplexe Angelegenheit auf den Punkt bringt. Und genau das tut dieser Begriff.

Postfaktisch bedeutet, dass Gefühle wichtiger sind als Tatsachen, dass Meinungen mehr zählen als Erkenntnisse, dass Glauben mindestens ebenbürtig ist mit Wissen und in Folge dessen Aberglaube mindestens so ehrenwert wie Wissenschaft. Das Präfix „post“ (lateinisch: nach) deutet an, dass es dabei eine Veränderung im Zeitverlauf gab. So wie auf die Moderne die Postmoderne folgt, kommt nach einer „faktischen“ Zeit eine postfaktische.

So weit der Begriff. Was nun ein bisschen sinnlos ist, ist zu kritisieren, dass der Begriff das tut, was ein Begriff nun mal tun soll, nämlich wie gesagt eine komplexe Gemengelage auf den Punkt bringen und damit zwangsläufig vereinfachen. Dazu sind Begriffe da. Der Begriff „Stuhl“ vereinfacht auch und wird der Vielfalt von Millionen verschiedener Sitzgelegenheiten, die es gibt, nicht gerecht. Und trotzdem kann man ihn ganz gut gebrauchen, wenn man über Sitzgelegenheiten reden will.

Was man hingegen tun kann und sollte, ist diskutieren, ob sich mit dem Begriff angemessen aktuelle Entwicklungen zusammenfassen lassen und ob es sich wirklich um aktuelle Entwicklungen handelt, also nichts, was mehr oder weniger schon immer so war. Einen lesenswerten Beitrag zu dieser Diskussion liefert nun die ZEIT, die zehn Professoren dazu befragt hat, ob wir wirklich in postfaktischen Zeiten leben und woran sie das festmachen bzw. wie sich das auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse ihres Fachgebiets auswirkt.

Fakten haben in unserer Gesellschaft ein schlechtes Ansehen – sie sind kalt, schwierig zu durchschauen und langweilig.

Sagt zum Beispiel Isabel Schnabel, Professorin für Finanzmarktökonomie in Bonn. Damit haben es Fakten schwer gegenüber einfachen Botschaften, die zwar falsch sind, aber das Leben unkomplizierter machen, wie der Geowissenschaftler Reinhold Leinfelder ausführt:

Am Klimawandel-Leugnen sieht man gut: Die Komplexitäten der Welt überlasten die Bürger, sie suchen einfache Antworten. Lehnt man die Tatsache des menschengemachten Klimawandels ab, hat man, zumindest gefühlt, ein Problem weniger.

Dass der Weg vom Postfaktischen hin zu Verschwörungstheorien ein kurzer ist, darauf weist der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen am Beispiel des „Lügenpresse“-Vorwurfs hin:

Der Lügenpresse-Vorwurf der Pegida-Bewegung ist zum Wutschrei erstarrte Postfaktizität, die Ultrakurzformel einer Verschwörungstheorie. (…) Das verschwörungstheoretische Denken liefert ein ziemlich attraktives Ordnungsmuster in Krisen- und Umbruchzeiten. Es ist gegen Widerlegung immunisiert: eine Weltformel des Übels, das die Ad-hoc-Einordnung vollkommen unterschiedlicher Phänomene erlaubt. Und man kann sich ohne allzu große intellektuelle Unkosten als derjenige ausgeben, der das eigentliche Geschehen „hinter den Kulissen“ begreift. Das heißt: Komplexitätsreduktion und das implizite Selbstlob, durchzublicken in einer von raffinierten Manipulationen regierten Medienwelt – das erscheint mir als das Attraktivitätsgeheimnis der Lügenpresse-Vorwürfe.

Und es gibt natürlich einen Ort, wo das besonders gut funktioniert, weil Tatsachen und Blödsinn quasi gleichberechtigt nebeneinander stehen:

Immer mehr Menschen informieren sich im Internet. Dort stehen Meinung, Gerücht und wissenschaftliches Ergebnis ununterscheidbar nebeneinander. Es fehlt an Orientierung und Qualitätskriterien. Die Aufmerksamkeit wird eher dem zuteil, der am schrillsten auftritt. Da kann (und will!) Wissenschaft nicht mithalten.

So der Klimaforscher Mojib Latif. Dem letzten Satz allerdings widerspricht der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte (wie ich meine zu Recht):

Ich glaube an die Faszination neuer Erkenntnisse, man sollte sie passend zur Zielgruppe vermitteln: Grafik, Text, mündlich, gefühlig und so weiter. Man kann Bürger auch mit Fakten immer noch erreichen. Die Qualität der Öffentlichkeit bedingt auch die Qualität von Demokratie. Wer die Qualität der Demokratie sichern möchte, muss sich über die neuen Mechanismen der politischen Kommunikation informieren.

Das alles und mehr wie gesagt nachzulesen in der ZEIT.

Schönes Wochenende!

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13 Gedanken zu “Zitat am Freitag: Postfaktisch

  1. Vielleicht leben wir ja nicht in einer postfaktischen Zeit, sondern in einer post-wissenschaftsgläubigen. Die Wissenschaftsgläubigkeit trennt sehr scharf zwischen kalten, rationalen, klaren Fakten und unreflektierten, warmen, verschwommenen Emotionen.
    Bauchgefühl, Instinkt, Ahnung, Begeisterung … galt und gilt noch immer als unwissenschaftlich. Somit auch als weniger intelligent und von weniger Wert: Nicht erkenntnisführend. Noch heute unterscheiden viele (vor allem in Deutschland) zwischen „unsachlicher“ und „sachlicher“ Diskussion – als ob sich beides einfach und klar trennen ließe.
    (Dabei sind Menschen überhaupt nicht in der Lage, irgendeine Sache unemotional zu erfassen.
    Was nicht emotional erfasst wird, wird gar nicht erfasst und ist deshalb für uns nicht existent.)

    Wenn man sich einmal bewusst macht, wieviele der vermeintlich wissenschaftlichen Fakten auf Glauben, Vermutungen, Meinungen und Besserwisserei beruhen, und wieviele der vermeintlich sachlichen Diskussionen subtil aggressiv und im Hintergrund völlig irrational sind, dann kann das auf Dauer nur irritieren. Irritation führt zu Gegenpositionen … die dann oft nicht weniger unklug sind.

    In einer postfaktischen Zeit leben wir also nicht, da es eine faktische Zeit nie wirklich gab und geben konnte. Der Mensch ist kein faktisches Wesen.

    Zu Krisen und zu Problemen kommt es immer dann, wenn sich Menschen vereinfacht (reduziert) dargestellt oder versachlicht fühlen. Immer dann, wenn man Menschen in ihrer (rationalen und irrationalen) Komplexität und (emotionalen) Tiefe nicht gerecht wird.

    Wir leben in einer Zeit, in der sich viele Menschen bewusst oder unbewusst weigern, diesen harten Trennstrich zwischen Fakten und Gefühlen zu ziehen. Vielleicht auch, weil sie erkannt haben, dass sich echte Erkenntnis genau dann einstellt, wenn man beides eben nicht trennt.

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    • Na ja, ich will nicht zu sehr in Erkenntnistheorie eintauchen, aber wir sollten ganz grob schon festhalten, dass es auf Basis wissenschaftlicher Methoden so etwas wie objektive Erkenntnis gibt. Diese Fakten basieren eben nicht auf Glauben und Meinungen, sondern sind evidenzbasiert und intersubjektiv und stellen sich vor allem der Kritik, um verifiziert, falsifiziert oder modifiziert zu werden (was Glaube nie tut). Es ist aber richtig, dass es zur Vermittlung dieser Fakten nicht reicht, dieselben „unemotional“ darzustellen, jedenfalls dann nicht, wenn man Zielgruppen außerhalb der wissenschaftlichen Community erreichen will. Und darauf spielt ja u.a. Das letzte meiner Zitate an …

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      • Stimme ich voll und ganz zu. Das letzte Zitat war mir auch das liebste.

        Postfaktisch wird ja gemeinhin in dem Sinne benutzt, dass Menschen sich nicht nur von Lügen täuschen lassen, sondern dass es ihnen einfach scheißegal ist, ob etwas unwahr ist oder nicht.
        „Postfaktische“ Politik erzählt keine Lügen, sondern unwahre Storys, wobei es nicht zuerst wichtig ist, wie unwahr eine Story ist, die Hauptsache ist, dass die Story einfach ist und funktioniert. Dass diese Story unwahr (bullshit) ist, ist dabei aber auch recht wichtig. Warum auch immer.

        Eine mögliche Gegenreaktion wäre, auch wirkungsvolle, einfache, emotionale Storys zu erzählen. Mit einem Unterschied: Diese Storys müssten WAHR sein (also eben auf objektiven Fakten beruhen). Das würde ganz sicher funktionieren. Postfaktisch bedeutet dann, dass das leider nur noch wenige wollen oder können. Man windet sich mit der Ausrede heraus, dass einfache und wirkungsvolle Storys notwendig unwahr seien. Ich bin aber überzeugt: Das stimmt nicht!

        Im übrigen bin ich der gleichen Meinung wie Herr Rudolph unten: Postfaktisch ist ein Verschleierungswort und ist im Grunde genommen genauso verlogen wie das, was es beschreiben soll.
        Es ist zudem negativ konnotiert und enthält die konservative Ideologie: Früher war alles besser (weil faktisch rein) und heute ist alles schlechter (weil gefühlsduselig).

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  2. Wir sind natürlich darauf angewiesen, dass Dinge vereinfacht und auf einen Begriff reduziert werden.
    Ich denke aber, dass es doch einen Unterschied gibt, zwischen einem Begriff wie Stuhl und einem Begriff wie postfaktisch. Der Begriff Stuhl ist genau genommen nämlich keine Vereinfachung, sondern die Verallgemeinerung einer Idee. Diese Idee besteht aus bestimmten Komponenten: „Sitzgelegenheit mit vier Beinen und Rückenlehne“ (so ungefähr). Alle Sachen, auf die diese Definition zutrifft, sind (meistens) ein Stuhl.

    Bei „postfaktisch“ ist das anders: der Begriff ist zwar der Versuch der Verallgemeinerung einer Idee (die oben ziemlich gut definiert ist), aber diese Idee beruht auf einer Hypothese, die bei genauerer Betrachtung eigentlich nie zutrifft: Es gibt kaum Sachverhalte oder Dinge, die der Begriff treffend bezeichnen würde. (Es gibt aber viele Dinge, die der Begriff Stuhl treffend bezeichnet.)
    So gesehen, ist „postfaktisch“ eher eine Reduktion von Wirklichkeit als eine Verallgemeinerung, also eine Vereinfachung, und deshalb eher eine Meinung als ein Begriff. Das ist wohl auch der Grund, wie oben treffend beobachtet, von Verwechslungen zwischen beidem.

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  3. Vielen Dank für den interessanten Beitrag. Als Lesetrainer freue ich mich immer über neue Wörter, mit denen ich die Lesefertigkeit meiner Schüler auf die Probe stellen und ihren Wortschatz erweitern kann. Aber postfaktisch nutze ich dafür nicht. Für mich gehört dieser Begriff zum Vokabular der politisch korrekten Schwafler, die sich nebulös ausdrücken und sich scheuen zu sagen, dass es um Lüge, Manipulation, Unwissenheit und Unfähigkeit geht. Es wird zunehmend deutlicher, dass es nicht gelingt, komplexe Sachverhalte zu erklären und für kurzfristige Einschränkungen Verständnis zu erreichen. Das liegt auch daran, dass viele Verantwortliche nicht ehrlich, überzeugend und authentisch klingen. Das machen die, die Lügenpresse schreien, einfach besser. Die klingen authentisch, auch wenn Sie lügen. Und zu lügen, um sein Ziel zu erreichen, das wird immer offensichtlicher unverhohlener Standard. Beispiele dafür gibt es genug, auch von den Etablierten. VW ist nur eines davon. Es ist weniger die Frage, ob Fakten zählen oder nicht, sondern ob diejenigen, die die Fakten nennen, das überzeugend tun. Denn nachprüfen, was stimmt, ist den meisten Menschen gar nicht möglich. In fast jeder Talkshow wird mit Prozenten und Relationen argumentiert, die nicht hinterfragt werden. Auf Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Überzeugung kommt es an. Das war allerdings schon immer so – siehe oben!

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    • Ich glaube, beim „Postfaktischen“ schwingt noch eine andere Bedeutung mit, die mit Lügen und Manipulieren nicht erklärt werden kann. Beispiel: Objektiv gesehen geht es den meisten Deutschen heute besser als vor 20 Jahren, es gibt mehr Wohlstand, weniger Arbeitslosigkeit etc. Subjektiv wird das von manchen aber anders wahrgenommen. Nun könnte man statt „postfaktisch“ einfach den Begriff „subjektiv“ nehmen und die These aufstellen, wir lebten in einem „subjektiven“ Zeitalter. Da fehlt aber dann genau jene Manipulation und jene Lügen, die Sie zu Recht erwähnen. „Postfaktisch“ ist ein Konglomerat aus Lüge, Manipulation, größerem Gewicht, das man Gefühlen und persönlichen Eindrücken beimisst, zusätzlich noch verbunden mit Techniken und Algorithmen moderner Medien, die hier verstärkend wirken … aber eben komprimiert in einem Begriff, verbunden mit dem Vorteil, dass der Begriff eine Veränderung andeutet, wie oben geschrieben. Das macht ihn interessant und diskutierbar.

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  4. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Buggisch, gehen Sie davon aus, dass sich in der Wahrnehmung der Menschen in den letzten zehn, zwanzig Jahren etwas Grundsätzliches geändert haben muss?
    Ich kann das so aber nicht bestätigen. Mir scheint, dass die Kommunikation und die damit verbundenen Wahrnehmung mehr oder weniger seit tausenden von Jahren immer gleich ist. Daran hat auch das Internet nichts geändert. Ja klar, es gibt jetzt andere Filterblasen, subjektivere und objektivere Sichtweisen, offenere und geschlossenere Formen der Kommunikation, und andere Medien und andere Wege der Kommunikation, aber die Menschen haben sich doch nicht geändert.
    Für Massenphänomene und Demagogen und autoritäre Staatsformen sind sie so anfällig, wie sie immer waren. Nix hat sich geändert.
    Und die letzten Jahrzehnte waren auch nicht faktischer als andere zuvor, und unsere Zeit jetzt ist nicht weniger faktisch als vor zehn Jahren. Was sich geändert hat, ist der Einfluss gewisser Tendenzen, die immer vorhanden sind und die manchmal stärker und manchmal schwächer wirken.
    Das Internet hat daran keine Schuld, es ist nur eines der Vehikel dafür. Ohne es gäbe es trotzdem auch andere.

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    • Ich sag mal so: Ich gehe nicht davon aus, aber ich denke darüber nach. An dem, was Sie schreiben, ist natürlich was dran. Dennoch verändern sich Wahrnehmung und Kommunikation innerhalb von Gesellschaften und innerhalb bestimmter Themengebiete – vielleicht ist es hilfreich, das etwas weniger global zu betrachten. Und im politischen Diskurs hat sich, das glaube ich schon, in den letzten Jahren etwas geändert. Oder im medizinischen. Nehmen wir nur das Thema Impfskepsis. Und das hat eben auch etwas mit neuen Medien zu tun (ich schrieb mal was darüber: https://buggisch.wordpress.com/2015/02/25/das-impfen-und-das-internet/ ). Hier haben aufgrund einer Reihe von Faktoren Evidenz und Fakten eine geringere Bedeutung als vor etlichen Jahren. Oder ich formuliere es vorsichtiger: Die Kommunikation vs. Evidenz und Fakten ist lauter geworden. Ich sage nicht, dass das singulär ist und dass es das noch nie gab, sondern dass momentan Veränderungen zu beobachten sind. In zehn Jahren kann es neue (oder altbekannte) Faktoren geben, die den Diskurs wieder in eine andere Richtung lenken.

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  5. Naja, wenn es sich nicht um ein globales, sondern ein eher punktuelles oder temporäres Phänomen handelt, ist ein Begriff wie postfaktisch, der ja fast epochal klingt, ein wenig großspurig, oder nicht?

    Außerdem scheint es mir, dass er von tatsächlichen Problemen ablenkt. Wenn ein Politiker von postfaktischer Zeit spricht, gibt er einfach dem Zeitgeist die Schuld für bestimmte Verschiebungen und schüttelt damit Verantwortung von sich ab. Gegen einen solchen Zeitgeist kann man ja wenig tun, wenn man selbst faktisch (gut, wissenschaftlich, objektiv, evidenzbasiert …) bleiben will und muss. Damit tut sich dann ein Graben auf, zwischen faktischen und postfaktischen Menschen (Politikern, Managern …), da ist übergreifende Kommunikation ja gar nicht mehr möglich.
    Hm, halte ich für sehr bedenklich.

    Zumal ich glaube, dass es genau dieser etwas überheblichen Haltung und den damit verbundenen Kommunikationsformen zuzuschreiben ist, dass sich der Graben überhaupt auftun konnte.

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    • Natürlich gibt es einen Graben zwischen faktischen und postfaktischen Menschen (wir bleiben einfach mal bei dieser Vereinfachung). Dazu musst du dir nur Diskussionen zwischen Freunden evidenzbasierter Medizin und Anhängern der Homöopathie durchlesen oder besser noch: dich daran beteiligen.

      Aber ja, ich bin deiner Meinung, dass hier die Kommunikation gefragt ist und dass viel falsch gemacht wird und werden kann. Morgen gibt es einen Blogbeitrag von mir zum Thema Populismus, da geht es dann auch darum …

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