Demokratie-Lethargie

Die Natur hat es gut mit uns gemeint. Obwohl der homo sapiens das einzige Lebewesen mit Geschichtsbewusstsein ist, vergessen wir schnell, vor allem Unerfreuliches und Unschönes. Das erklärt zumindest zum Teil, was wir politisch und gesellschaftlich gerade erleben …

Man kann es auch so formulieren: Es geht uns zurzeit derart gut, dass wir aus reiner Langeweile ein paar Errungenschaften schreddern. Einfach weil wir ein bisschen vergessen haben, warum wir sie einst mühsam errungen haben.

Warum wehrhaft bleiben?

Beispiel gefällig? Dass die Politik heute (zu Recht) über eine Impfpflicht gegen Masern nachdenkt, ist ein Armutszeugnis für eine vermeintlich fortgeschrittene, vernünftige Gesellschaft. Jeder Mensch in diesem Land könnte sich und seine Kinder quasi kostenlos, weil von der Gemeinschaft der Krankenversicherten finanziert, gegen Masern und viele andere schlimme Krankheiten mit üblen Folgen impfen lassen. Statt dessen mehren sich die Masernfälle in der Republik, weil wir die notwendige „Herdenimmunität“ nicht erreichen. Ein Grund dafür sind Desinformations-Häppchen und -kampagnen von Besorgten und Wahnsinnigen im Internet, wo heute bekanntlich jeder alles publizieren kann, und Google die Meinung von Geistheilerin Schantall zum Thema Impfen gleich neben den Erkenntnissen des Robert-Koch-Instituts anzeigt.

Ein anderer Grund ist, dass wir schlicht vergessen haben, wie schlimme (Kinder-)Krankheiten aussehen und sich anfühlen, die durchs Impfen beinahe verschwunden sind, aber eben nicht ganz. Das Impfen ist eine der erfolgreichsten medizinischen Maßnahmen der Menschheitsgeschichte (1967 wurde von der WHO eine weltweite Impfpflicht gegen Pocken eingeführt, einige Jahre später waren die Pocken ausgerottet; Pocken-Opfer vorher: Millionen, Pocken-Opfer nachher: Null) – und zugleich Opfer des eigenen Erfolgs. Der Feind ist nicht mehr sichtbar, man kann sich nicht mal mehr vorstellen, wie er aussah, warum also noch die Reihen schließen und wehrhaft bleiben?

Wohlstandsverschlafen und demokratiemüde

Ähnlich geht es uns heute mit manchen demokratischen Errungenschaften. Das Erstarken der Rechtspopulisten in weiten Teilen Europas fällt in eine Zeit von Wohlstand, Stabilität und Frieden. Es ist ja kein Zufall, dass eine Partei wie die SPD mit ihren klassischen Themen zunehmend marginalisiert wird. Der Kampf für die Arbeitnehmerrechte in Deutschland war so erfolgreich, dass es da jenseits von i-Tüpfelchen nichts mehr zu kämpfen gibt. Und wenn sich sogar die „Arbeiter am Band“ inklusive Betriebsrat gegen die Vergesellschaftungsphantasien eine Juso-Vorsitzenden wehren, weiß man, dass „die Arbeiter“ heute zum Establishment gehören.

Ansonsten geht’s uns so gut, dass wir Homöopathie für echte Medizin halten, das national bedeutende Thema Fahrradhelme diskutieren und uns ernsthaft mit der Frage beschäftigen, ob es drei Zeilen weiter oben nicht eigentlich Arbeiter*innen heißen müsste. First world problems. Ich wage mal die Prognose, dass die Begeisterung für diese Themen in Zeiten sich abkühlender Konjunktur und wackelnder Arbeitsplätze ein wenig nachlassen wird (ein Szenario, das um so wahrscheinlicher wird, je länger die Regierung und ganz Europa wohlstandsverschlafen wichtige Weichenstellungen in Sachen Zukunft und Digitalisierung versäumen – aber das ist ein anderes Thema).

Tja, und wozu braucht man in solchen Zeiten nochmal einen unabhängigen Journalismus, wie er in Artikel 5 des nunmehr 70 Jahre alten Grundgesetzes verankert ist? Ist doch alles gut. Masern tun nicht weh, Infos gibt es kostenlos im Web, Politiker sind wie sie sind und die Presse lügt ja sowieso. Ach, und Wahlen werden ja auch überbewertet. Es ändert sich ja doch nichts. Meinungs- und Kunstfreiheit? Ja, ja. Satire darf alles, es sei denn sie trifft nicht meinen Humor und steht politisch woanders als ich, dann ist sie schon nicht mehr so lustig und eigentlich auch ein bisschen überflüssig …

Österreich und die Lebensgeister der Demokratie

Bleiben wir beim Thema Pressefreiheit, stellvertretend für andere Errungenschaften der Demokratie. Mit einem Loblied auf die Pressefreiheit lockt man heute niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Zu viel Bürokratie im gebührenfinanzierten Journalismus, Lügenpresse-Vorwürfe, manche schlampige Arbeit, der Fall Relotius, ubiquitäre Verfügbarkeit von Informationen im Web, fehlende intelligente digitale Lösungen, fragwürdiger Verlags-Lobbyismus im Falle des Leistungsschutzrechts und der EU-Urheberrechts-Regelung … Gründe, gegenüber „der Presse“ kritisch zu sein, gibt es viele (wohl deutlich mehr Gründe als gegenüber Impfungen skeptisch zu sein). Gründe, sie für ihre Leistungen zu feiern, scheinbar wenige.

Und doch ist es auffallend, dass die freie Presse ein bevorzugtes Ziel von Rechtspopulisten und Autokraten auf dem Weg zur Macht ist. Es muss wohl doch noch eine aufklärerische Kraft von ihr ausgehen, die von Feinden der Demokratie gefürchtet wird. Und so muss man denen der FPÖ in Österreich geradezu dankbar sein für das Schmierentheater, das sie vor versteckter Kamera aufgeführt haben und das sie nun ihre Posten gekostet hat. Denn erstens zeigt der Fall glasklar, dass Antidemokraten die Presse im Visier haben (in diesem Fall von Kronen-Zeitung bis ORF) und dass sie sie als ernsthaftes Hindernis auf dem Weg zur Erreichung ihrer Ziele sehen. Und zweitens, dass so ein Vorfall auch in unseren müden Zeiten geeignet ist, die Lebensgeister der Demokraten zu wecken, auf die Straße zu gehen, Halunken zu entmachten und Neuwahlen anzusetzen.

Ich finde es höchst erfreulich, dass der extrem niedrige Ruhepuls der in die Jahre gekommenen Demokratie noch zu solchen Ausschlägen fähig ist; aus dem gleichen Grund sollten wir uns über jedes politische Interesse der jungen Generation freuen, auch wenn dadurch mal Schulstunden ausfallen oder in coolen YouTube-Videos die Fakten ein bisschen sehr selektiv ausgewählt werden.

Ende der Lethargie

Reicht ein Skandal wie in Österreich, um die demokratischen Grundwerte wieder ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit dringen zu lassen? Wahrscheinlich nicht. Aber je mehr deutlich wird, dass das demokratische Fundament unserer Gesellschaft antastbar ist und dass die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte jederzeit wieder einkassiert werden können, desto größer ist die Chance auf demokratischen Widerstand und auf ein Ende der politischen Lethargie.

PS: Und natürlich geht ihr nicht nur deshalb alle wählen. Ist doch so, oder?

Dieser Beitrag ist Teil der Blogparade „Was bedeutet mir die Demokratie?“ des Deutschen Historischen Museums. #DHMDemokratie

3 Gedanken zu “Demokratie-Lethargie

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