Breitschwert statt Skalpell: Gauck und die Internet-Zyniker

So mancher Web-Begeisterte (mich eingeschlossen) hat sich in den vergangenen Tagen verwundert die Augen gerieben: Was ist los mit der „Netzgemeinde“? Blanker Zynismus im Umgang mit einem Bundespräsidenten in spe, der gestern noch Wunschkandidat, weil ganz anders als Wulff war …

Kaum wurde vor genau einer Woche deutlich, dass Joachim Gauck neuer Bundespräsident werden wird, da explodierte meine Twitter-Timeline. Aber nicht vor Begeisterung, sondern vor Enttäuschung und Häme. Schnell rotierte ein veritabler Shitstorm durchs Web, der sich vor allem durch eines von den anderen fäkalen Windhöschen der Vergangenheit unterschied: Selbst Blogger und Twitter-Nutzer, die ich bislang für intelligent, kritisch und der Differenzierung fähig gehalten hatte, beteiligten sich daran und packten die socialmediale Keule aus.

Breitschwert statt Skalpell

Breitschwert statt Skalpell, so könnte man den Umgang mit Gauck im Web zusammenfassen. Und das ist erstaunlich, denn das Breitschwert war bislang die bevorzugte Waffe der Boulevard-Medien, namentlich der BILD-Zeitung, die nun just von denen Konkurrenz bekommt, die sich gerne als die jungen, neuen, anderen, besseren Vertreter von Freiheit, Transparenz und Aufklärung im Web in Szene gesetz haben, diejenigen, die den trägen und gestrigen Vertretern der klassischen Medien um Lichtjahre voraus sind, weil sie wissen, wie man dieses Internet-Dings benutzt und nutzt. Doch leider sind die Menschen im Web nicht besser als ihre analogen Zeitgenossen, und ein Medium ist immer das, was man daraus macht, wie Michael Spreng ein wenig frustriert und völlig zu Recht in seinem Blog feststellt:

Gaucks Lebenslauf wurde verfälscht, seine Zitate aus dem Kontext gerissen. Es war keine Sternstunde des Internets, sondern eine dunkle Episode. (…) Der Fall Gauck war wieder einmal ein Lehrstück: Das Internet ist nicht nur ein Medium der Freiheit, der Kommunikation und der Aufklärung, sondern auch der Diffamierung, Verfälschung und Denunziation.

Auf die Vorwürfe gegen Gauck (er sei für die Vorratsdatenspeicherung, für Hartz IV, für Sarrazin; und gegen Occupy, ach du meine Güte) im einzelnen einzugehen, ist müßig, außerdem haben andere wie Patrick Breitenbach das dankenswerterweise getan. Nichts davon hält einer näheren Betrachtung stand.

Kotext und Kontext

Als Germanist habe ich vor einer kleinen Ewigkeit mal den Unterschied (und die hermeneutische Bedeutung) von Kotext und Kontext gelernt. Ersterer meint die direkte textuelle Umgebung einer zu betrachtenden Textstelle, Letzterer alles, was für den Äußerungszusammenhang (und damit für das Verständnis desselben) von Belang sein kann. Dass man einem Text und seinem Autor, einer Aussage und ihrem Urheber nicht gerecht wird, wenn man Zitate aus dem Zusammenhang reißt, wenn man also einen Text unabhängig von seinem Kotext betrachtet, dürfte sich jedem, der halbwegs bei Verstand ist, erschließen. Dass sich trotzdem so viele im Web dazu hinreißen ließen, diesen Zusammenhang zu ignorieren, ist ein Armutszeugnis.

Doch auch der Kontext der bisherigen Gauck-Äußerungen findet meines Erachtens viel zu wenig Beachtung. Gauck hat bislang in den unterschiedlichesten Kontexten gesprochen – aber nicht als Bundespräsident. Die meisten Kritiker legen aber ausschließlich den präsidialen Maßstab an. Wie kann er nur dies und das sagen, wo er doch bald Bundespräsident wird? Wie kann er sich nur so einseitig dauernd über die Freiheit äußern, wo er als Bundespräsident doch für eine viel größere Themenvielfalt stehen muss? Wie kann er nur immerzu über Stasi und SED reden, wo wir doch heute ganz andere Probleme haben?

Natürlich ist es legitim, Gauck anhand seiner Worte und Taten zu beurteilen und zu kritisieren (woran auch sonst), aber doch bitte unter Berücksichtigung des Kontextes. Nicht jede Äußerung auf einer Lesereise in der Provinz wird er daraufhin überprüft haben, ob er sie als Bundespräsident in einer fiktiven Zukunft auch noch getätigt hätte.

Hashtag-Zynismus

Doch so viel Differenzierung ist wohl zu viel verlangt, vor allem in Medien, die schnell und direkt sind. Ich fürchte, es ist schon ein spezifisches Problem von Twitter, Facebook & Co, dass man hier schneller posten als denken kann und damit auch noch eine gewisse Reichweite erzielt. Eine flott formulierte Gauck-Kritik in 140 Zeichen? Die kann man doch schnell mal retweeten oder auf Facebook teilen, dem angehängten Link muss man dazu nicht gefolgt sein, und wenn hat man den verlinkten Text vielleicht mal schnell überflogen, das reicht, schließlich muss es schnell gehen …

Und es müssen nicht mal mehr 140 Zeichen sein, ein Hashtag genügt. Das Anti-Gauck-Schlagwort auf Twitter ist #nogauck oder auch #notmypresident. In einem Wort kann man damit zum Ausdruck bringen, dass man ein Urteil gefällt hat und den Kerl nicht leiden kann. Und um dieses Urteil zu fällen, genügt es vielen, ein paar Tweets über ihn gelesen zu haben. Tut mir Leid, Freunde der neuen Medien, aber da fehlen mir die Worte. Das Leben(swerk) eines Zweiundsiebzigjährigen auf ein abwertendes Schlagwort zu reduzieren, empfinde ich als zutiefst zynisch.

Einfach mal abwarten

Eigentlich ist die Sache doch ganz einfach: Warten wir’s ab. Betrachten wir Gauck wie jeden künftigen Amtsträger kritisch, aber geben wir ihm eine Chance. Warten wir ab, ob er sich bewährt oder nicht, ob er mehr aus seiner Präsidentschaft machen kann als seine Vorgänger. Beurteilen wir ihn, nachdem er als Bundespräsident geredet und gehandelt hat. Alles andere sollten wir weiterhin der BILD-Zeitung überlassen.

Ich habe keine Ahnung, ob Gauck ein guter Bundespräsident wird. Aber ich freue mich darauf, das herauszufinden.

Bildnachweis: Stephan Czuratis / Wikipedia

12 Gedanken zu “Breitschwert statt Skalpell: Gauck und die Internet-Zyniker

  1. Der Beitrag fasst recht gut auch meine Einschätzung ein. Irgendwelche verfälschten Zitate oder sogar nur Meinungsunterstellungen grassierten sehr schnell. Ich nutze genannte Kommunikationsmedien, wie Twitter oder Facebook kaum, eigentlich gar nicht. Dennoch konnte ich schnell von den Kritiken hören. Die Plattformen drängen meiner Meinung nach Qualitätsjournalismus massiv zurück, da die Komponente Zeit eine immer bedeutendere Rolle einnimmt. Dazu zählen viele Klicks als Statussymbol. Die erreicht man mit harrscher Kritik zügig. Auch braucht man selten lange lesen, wenn doch die 140 Zeichen alles auf den Punkt bringen. Eine fatale Entwicklung für die Diskussionskultur und auch für die Sprache…

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  2. Da stimme ich ausnahmsweise mal mit Trittin überein: „Ich werde mich noch oft über Gauck ärgern.“ Aber das ist so viel mehr wert als ein Präsidenten-Darsteller mit Teflon-Habitus. Wie anders entstehen Meinungen und Veränderungen als durch einen Wettstreit der Ideen.

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  3. Sehr geehrter Herr Gauck,
    ich kann mich um Ihre Kandidatur nicht freuen.
    Sie haben sich laut Ihrer Möglichkeiten für Menschenrechte in der DDR stark gemacht, unter dem Schutz der Kirche, das haben aber andere unter schlechteren Vorgaben auch getan. Dadurch hatten Sie eine „lautere“ Stimme und damit auch das Recht bekommen Ihre Meinung öffentlich zu äußern und nach der Wende einen Posten zu ergattern. Das Sie von Frau Merkel nicht unterstützt wurden liegt daran, Sie wissen mehr um die Zusammenarbeit der Frau Merkel mit dem Unrechtsregime der DDR. Das Sie zulassen, dass Frau Merkel sich auf der Pressekonferenz mit Ihnen und den anderen Freiheitskämpfern auf eine Stufe stellt, wo Frau Merkel bis zum Schluss zugeschaut hat, wie die Menschen in der DDR erschossen und eingesperrt wurden, lässt die Vermutung zu, Sie vertreten nicht das Volk, Sie sind dem Betrug erlegen.
    Ich habe meine Kandidatur rechtzeitig eingereicht und werde beschnitten, weil man keinen aus dem Volk will, um sich nicht in die Karten schauen zu lassen.
    Sie sind zwar in keiner Partei, Sie gehören aber einer Glaubensgemeinschaft an, die aus Ihrer Geschichte und Ideologie sich nicht für Demokratie stark macht.
    Die Kirche darf in unserem Staat kein Sprachrohr bekommen, wir müssen freigeistig
    argumentieren und erziehen.
    Stellen Sie sich der Wahl und mogeln Sie sich nicht durch Ihren Bekanntheitsgrad in ein Amt, was für Sie einträglich ist, aber für das Volk nie von Nutzen sein kann.
    Herr Heinemann war noch Bürger-Präsident, Sie werden Präsident Gnaden einer politischen Gruppierung, die sich zur Aufgabe gestellt haben, unsere Lebensgemeinschaft des Wachstums wegen zu zerstören.
    Frank Poschau
    http://www.frank-poschau.jimdo.com

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    • Lieber Herr Poschau,

      wenn ich das richtig erinnere, dann können Sie gar nicht eine „Kandidatur einreichen“. Ein Kandidat kann nur von einem Mitlglied der Bundesversammlung vorgeschlagen werden. Dem Vorschlag ist eine schriftliche Zustimmungserklärung des Vorgeschlagenen beizufügen. Es reicht also nicht, wenn Sie nur Ihre Zustimmungserklärung einreichen.

      Seien Sie also nicht verbittert, dass man Ihre Bewerbung ignorierte, ca. 80 Millionen andere Deutsche können sich ebenfalls nicht bewerben und werden mit Sicherheit auch nicht vorgeschlagen. Zudem sei angemerkt, dass Herr Gauck das hier gar nicht lesen wird, weshalb die Anrede in Herrn Buggischs Blog etwas deplatziert wirkt. ;-)

      Beste Grüße von

      Raul Katos

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  4. Natürlich ist es schön (und hier angebracht), mal wieder germanistisches Präzisionswerkzeug in Händen zu halten, sorgfältig „Kontext“ und „Kotext“ abzuwägen, auseinanderzuklamüsern und, ja, das Wort „hermeneutisch“ einfach hinzuschreiben.

    Und ein „Skalpell“ ist natürlich immer besser als ein „Breitschwert“ – außer es geht gegen eine Horde keulenschwingende Barbaren.

    Nur: jedes Zitat ist „aus dem Zusammenhang gerissen“ – immer. Das ist geradezu das Wesen des Zitats. Es mit diesem Verweis dem quellen- und stellenbewehrten Kritiker sofort wieder aus der Hand schlagen zu wollen – das wiederum erscheint mir zu einfach.

    Herr Gauck muß sich – nach dem Wulff-Debakel mit mehr Berechtigung denn je – Fragen stellen. Und zwar 1.) zu seiner Biographie und 2.) zu seinen politischen Positionen.

    Beides sinnvollerweise vor seiner Einführung in das Amt des Bundespräsidenten. Eine quälende öffentliche Neubewertung von (1.) bzw. (2.) sowie ein daraus resultierender Höllensturz a’la Wulff (oder zu Guttenberg, falls sich noch jemand erinnert) sollten reichen.

    Zu (1.) könnte Herr Gauck gelegentlich erklären, wie es kam, daß ihm die Staatssicherheit einen VW-Bus zum Privatgebrauch beschaffte und ihn nach Belieben in den Westen reisen ließ. West-Reisefreiheit – das war in der DDR die „Rolex“ unter den Privilegien, ein funkelnagelneues „Westauto“ kam gleich nach dieser „Rolex“.

    Umsonst gab es derlei nicht.

    Wer bei Wulff „Hauskredit“ und „Bobbycar“ gesagt hat, muß bei Gauck „West-Reisefreiheit“ und „VW-Bus“ sagen.

    Ein „DDR-Wulff“ in Schloß Bellevue wäre keine schöne Vorstellung. Außer natürlich, man sähe es als ein Stück realisierte Ost-West-Chancengleichheit.

    Zu (2.) könnte Herr Gauck präzisieren, was genau er an Herrn Sarrazin „mutig“ findet. Oder was genau an der frühen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR falsch war. Oder warum ihm die Ostpolitik Willy Brandts als feiges Appeasement erscheint. Oder warum er seine eigenen Eltern – beide seit den frühen 30ern stramme NSDAP-Mitglieder – als „harmlose Mitläufer“ entschuldigt, während er in allen Ex-SED-Mitgliedern nach wie vor den Antichristen wittert…

    Oder warum ein bißchen vage Kapitalismuskritik gleich „unsäglich albern“ sein muß.

    Oder ob sich „Freiheit“ anno 2012 wirklich in der Abwesenheit der DDR erschöpft.

    Oder, oder, oder…

    PS.: Huch, fast ein Kurzreferat geworden. Sorry for that, und einen schönen Sonntagabend natürlich. :-)

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  5. Nachtrag: zu diesem „Internet“-Dingens vertritt unser Freiheitsheld im übrigen ebenfalls recht fortschrittliche Ansichten. Kontext hin, Kotext her…

    PS.: Lesenswertes dazu u.a. bei Herrn Knüwer.

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    • Thomas Knüwer macht leider dasselbe wie viele andere: ein Zitat aus dem Zusammenhang reißen und draufprügeln. Daher fand ich das nicht sehr lesenswert (obwohl ich sein Blog sonst sehr gerne lese). Immerhin ist er ehrlich: „Und je mehr Zitate ich von Joachim Gauck höre, desto skeptischer werde ich“ – das ist ja genau das Problem: Zitate-Bingo …

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  6. Herr Buggisch,

    bei allem Respekt, aber Sie scheinen sich da in einen gelinde übersteigerten Fairneß-Begriff zu verrennen.

    Aber das könnte natürlich mein Fehler sein: ich entreiße da ein einfach ein paar Ihrer Zitate aus diesem schönen Blog schnöde dem Zusammenhang und mäkele daran herum. Oder „draufprügle“ ich sogar schon? ;-)

    Wollte man sich allen Autoren der Literatur- oder gar allen Akteuren der „richtigen“ Geschichte derart skrupulös annähern, gäbe es weder eine kritische Literatur- noch eine Geschichtswissenschaft.

    Aber das wissen Sie natürlich. :-)

    Sei’s drum.

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    • Übersteigerte Fairness nehm ich mal als Kompliment ;-) Ich bin schlicht ein Fan der differenzierten Betrachtung und die kommt mir bei der Was-hat-der-Gauck-übers-Internet-gesagt-Aufregung wieder mal zu kurz. Aber Ko- und Kontext werden ja in den Kommentaren bei Knüwer ausführlich diskutiert, das können wir uns hier sparen …

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