Die Alten und die Jungen

Das Schöne am Fußball ist ja, dass man ihn symbolisch und poetisch überhöhen kann. Sonst wäre es ja nur ein Spiel, bei dem 22 Menschen hinter einem Ball herlaufen. Die wirklich großen Spiele aber erzählen eine Geschichte …

So auch das Viertelfinale Deutschland – Italien bei der EM gestern Abend. Und diese Geschichte ist nicht, dass Mesut Özil zum zweiten Mal einen Elfmeter verschossen hat, worüber ein CSU-Politiker einen Tweet schrieb, den ganz viele unbedingt missverstehen wollten. Die Geschichte ist auch nicht, ob sich Jogi Löw mal wieder durch die Umstellung der Mannschaft vercoacht hat, wie Mehmet Scholl sich gestern Abend in Rage kommentierte. Und die Geschichte ist nicht mal die des „Fluchs“, der endlich gebrochen wurde, weil die deutsche Mannschaft ja noch nie bei einem Turnier gegen Italien siegen konnte. Dieser Mythos war in dem Moment erledigt, als wir gewonnen hatten, und interessiert schon niemanden mehr.

Nein, die Geschichte von gestern Abend ist, dass die Alten und die Jungen gemeinsam gewonnen haben.

300 Jahre Erfahrung

Die Alten, das sind die, die 120 Minuten lang in einer überaus intensiven Mittelfeld-Partie, dem bisher schwersten Spiel des Turniers, den italienischen Haudegen kaum eine Chance ließen. Hummels, Boateng, Khedira, Kroos, Özil, Müller, Schweinsteiger, Gomez … Mit der ganzen Abgebrühtheit aus gefühlt 300 Jahren Fußball-Erfahrung haben sie den Kasten sauber gehalten (Boatengs kleine Ballett-Einlage lassen wir mal außen vor) und die zwei, drei Chancen mehr erarbeitet als Italien, die so ein Spiel normalerweise (also ohne Ballett-Einlage) entscheiden.

Doch dann kam das Elfmeterschießen und die Stunde der Jungen. Es war faszinierend zu sehen, wie die Erfahrung aus unzähligen Spielen auf einmal zur Last wurde. Als Schweinsteiger zum Matchball antrat, sah man ihm an, wie schwer er trug: an dem Wissen, wie es sich anfühlt, das entscheidende Tor nicht zu machen, den ultimativen Elfmeter nicht zu verwandeln, das wichtigste K.o-Spiel der Saison knapp zu verlieren. Und so scheiterte er wie vor ihm Özil und Müller an der eigenen Erfahrung.

Last? Welche Last?

Und dann das Wunder von Bordeaux: Joshua Kimmich (21 Jahre), Julian Draxler (22 Jahre) und Jonas Hector (26 Jahre, aber als Nationalspieler noch blutjung) schossen ihre Elfmeter derart cool und unbeeindruckt ins Netz, dass man von jugendlichem Leichtsinn reden könnte, wenn die ganze Sache nicht gut ausgegangen wäre. Last? Welche Last? Ist doch nur ein Ball. Und ein Tor. So ungefähr sah das aus.

So werden mit Fußball Geschichten geschrieben, die einfach, schön und, ja, ein bisschen kitischig sind. Die Alten und die Jungen haben gewonnen. Der Resonanzboden für diese Geschichte ist eine Gesellschaft, die zunehmend von Generationenkonflikten geprägt ist, wie man jüngst beim Brexit sehen konnte.

Das erklärt warum wir zurzeit (oder eigentlich seit Jahren) so viel Spaß am deutschen Fußball haben. Weil die Mannschaft nicht nur wahnsinnig spannende Spiele produziert, sondern auch als Projektionsfläche für schöne Geschichten von Integration und Gemeinschaft taugt.

Ach ja, und wenn wir jetzt bitte noch den Titel holen könnten, dann wäre die Geschichte so richtig rund :-)

 

 

 

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