Woche der Widersprüche

Alles wieder normal, oder? Fühlt sich beinahe so an. Unterdessen rollt in anderen Ländern die zweite Welle an. Nur einer von vielen Widersprüchen, die uns gerade begegnen …

In einem Beitrag, auf den ich nachher noch zurückkomme, las ich kürzlich folgenden hilfreichen Satz:

Der amerikanische Psychologe George Kelly hat Mitte des vergangenen Jahrhunderts offengelegt, warum wir widersprüchlich handeln, aber uns selbst nicht so erleben: weil wir in Konstrukten denken. Die können völlig widersprüchlich sein, aber für uns ist alles stimmig.

Über eines dieser Konstrukte, das Präventionsparadox, haben wir hier neulich erst geredet. Prävention sorgt für Reduktion von Bedrohung sorgt für Zweifel an der Notwendigkeit von Prävention.

Ein weiteres, damit verwandtes Konstrukt, das wir gerade bauen, sieht folgendermaßen aus: Jede Lockerung in Deutschland hat bisher gut funktioniert, also können wir immer weiter lockern, bis alles wieder beim Alten ist. Das ist deshalb „völlig widersprüchlich“, da wir ja wissen, dass uns genau dieses Alte in den ersten Lockdown geführt hat. Aber wir blenden es aus. Ist irgendwie zu lange her.

Das ist in anderen Ländern natürlich genauso, und daher kann man das Ergebnis dieses Konstrukts zurzeit in Israel beobachten, wo eine zweite Welle anrollt. Die Ursache: Nachlässigkeit, kaum noch Abstand, wenig Mundschutz. Und, schlechte Nachricht: Auch die wieder geöffneten Schulen scheinen Infektionsherde zu sein, die die zweite Welle anschieben.

Das sind gute und schlechte Nachrichten. Schlechte natürlich, weil es ein verdammtes Debakel wäre, wenn die Kinder weiter oder erneut im Homeschooling geparkt würden, denn Schule zu Hause ist in weiten Teilen der Bildungsrepublik Deutschland gar keine Schule, sind wir mal ehrlich. Gute, weil wir davon profitieren, dass uns andere Länder ein paar Wochen voraus sind. Zynisch, aber wahr: Weil sich in Norditalien die Toten gestapelt haben, waren wir konsequent im Lockdown; weil anderswo nun neue Lockdowns drohen, bleiben wir vielleicht vorsichtig.

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Schön widersprüchliche Konstrukte erleben wir auch im Zusammenhang mit der Corona-Warn-App, die letzte Woche endlich verfügbar war. Einerseits sind 10 Millionen Installationen innerhalb weniger Tage natürlich ziemlich cool. Andererseits haben folglich 35 Millionen Deutsche die App nicht installiert, obwohl sie es könnten (rund 50 Millionen Smartphone-Nutzer gibt es wohl in Deutschland, 5 Millionen davon können die App aus verschiedenen Gründen nicht installieren).

Gründe für die Installations-Trägheit sind neben Wurschtigkeit und Bequemlichkeit („Hatte noch keine Zeit“, „Hab ich nicht gewusst“, „Interessiert mich nicht“ …) natürlich wieder mal Bedenken, die allenthalben getragen werden. Das können wir ja ziemlich gut. Dabei scheint es mir ganz grob drei Sorten von Bedenkenträgern zu geben:

Erstens selbstverständlich die Wahnsinnigen, die in der App ein Überwachungs- und Unterdrückungs-Instrument der MERKEL-DIKTATUR sehen, ähnlich wie Impfungen für sie ein Instrument des BILL-GATES-IMPERIUMS sind (immer in Versalien, ganz wichtig).

Zweitens die Datenschutz-Fanatiker, die selbst dann Bedenken tragen, wenn die meisten deutschen Datenschützer das Konzept und die Umsetzung der App loben (und das will schon was heißen), und die natürlich lustigerweise Bedenken speziell gegen diese App haben, obwohl sie Smartphones mit Apple- und Google-Betriebssystemen und diversen Apps aus dem Hause Facebook nutzen. (Wir erinnern uns an das Zitat oben: Konstrukte können völlig widersprüchlich sein und uns doch stimmig vorkommen.)

Drittens die Super-Spezialisten, die sich den Quellcode aber ganz genau angeschaut und irgendeine Unstimmigkeit entdeckt haben und deshalb in ihrer Expertenblase lästern, dass das ja wieder mal typisch für die Digitalisierung in Deutschland sei, nix funktioniert hier … Und selbst wenn sie nichts entdeckt haben, maulen sie, dass die App drölfzig Millionen Euro gekostet hat, was tatsächlich ein phantastischer Betrag ist, den mir mal jemand bei SAP oder Telekom erklären müsste, was aber dennoch überhaupt kein Argument gegen die Installation der App ist.

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Den Reigen an Widersprüchen beschließen wir mit einem ganz analogen Thema, das ebenfalls im Zusammenhang mit Corona steht, das aber darüber hinaus relevant war und bleibt: Die Rede ist von der Fleischproduktion in Deutschland. Natürlich ist es leicht, mit dem Finger auf die Firma Tönnies zu zeigen, die schon deshalb einen Shitstorm verdient hat, weil sie das Abschlachten von empfindungsfähigen Lebewesen mit drei lächelnden Tieren im Logo verharmlost, deren Schwänze allen Ernstes ein Herz formen. Dieses Logo ist ein ausgestreckter Mittelfinger für alle, denen Tierwohl auch nur ansatzweise etwas bedeutet.

Das eigentliche Problem besteht aber darin, dass Tönnies und die restliche Billig-Fleisch-Industrie in Deutschland mit ihren unterirdischen, teils menschenverachtenden, offenbar pandemiefördernden Produktionsbedingungen einfach nur das Angebot für eine Nachfrage schafft, für die wir alle verantwortlich sind. 60 Kilo Fleisch pro Kopf pro Jahr, und zwar so billig wie möglich. Das ist das Problem. Und weil wir das so wollen, sind wir das Problem.

Genau darauf geht auch der Beitrag aus der SZ (hinter der Paywall) ein, den ich anfangs zitiert habe, ein Interview mit einem Ernährungspsychologen. Genau darauf bezieht sich sein Widerspruchs- und Konstruktions-Zitat, dass wir problemlos Unmengen billigst produziertes Fleisch essen können, obwohl die meisten von uns niemals wollen, dass so ein süßes kleines Schweinchen leiden muss. Wir konstruieren uns einfach eine Wirklichkeit, in der das marinierte Aldi-Steak für 99 Cent nichts mit dem Lebewesen zu tun hat, das es mal war und dessen sehr kurzes sehr hartes Leben sehr unschön unter dem Messer eines schlecht bezahlten Tönnies-Subdienstleisters endete.

Die Wirklichkeit hinter dem Wohlstand auszublenden, der in diesem Land herrscht, ist schon eines der größeren Probleme unserer Zeit, wenn ihr mich fragt. Ich will wirklich niemanden missionieren, aber sich mal zwei, drei Gedanken über Zusammenhänge zu machen, ist doch nicht zu viel verlangt. Dafür gibt es tausend Anlässe und Möglichkeiten, etwa zur Frage, was unser Kaffee-Konsum mit Ausbeutung zu tun hat, um nur ein Beispiel hier aus dem Blog zu nennen.

Wie auch immer, der Ernährungspsychologe spitzt das Thema Fleischkonsum an einer Stelle des Interviews schön zu:

Vegetarier und Veganer sind zu 80 Prozent jung, weiblich, gebildet. Der beharrliche Fleischkonsument ist, überspitzt formuliert, der männliche Proll, der über den Fleischkonsum seine männliche Identität aufrechterhalten will.

Autsch, das tat weh. Immerhin blickt der Psychologe optimistisch in die Zukunft:

Ich bin mir sicher, diese Schlachthöfe gehören bald der Vergangenheit an. Es gibt eine stille Revolution. Millennials beurteilen Essen deutlich kritischer. Das Qualitätsbewusstsein ist gestiegen.

Sein Wort in Gottes Ohr.

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Nächste Woche ist hier übrigens Pause. Ich wandere durch die Alpen und versuche, Corona und die ganze widersprüchliche Wirklichkeit so weit wie möglich auszublenden. Ein bisschen Konstrukt wird doch erlaubt sein, wenigstens für eine Woche.

6 Gedanken zu “Woche der Widersprüche

  1. Die Statistik biegt sich der Ernährungspsychologe ein bisschen hin. Aktuell ernähren sich 10 Prozent der Bevölkerung vegetarisch. 1.8 davon vegan. Von diesen 10 Prozent sind also 80 Prozent weiblich und gebildet. Von den restlichen 90 Prozent sind also – oberflächlich gerundet, ca 60 % männliche und 40 Prozent weibliche Menschen, die mehr oder weniger oft Fleisch essen. Eine Mehrheit männlicher Prolls, die über den Fleischkonsum die Machismo-Flagge hochhalten ist m. E. daherkonstruierte Stimmungsmache, sonst nix. Meine Frau isst beispielsweise deutlich mehr Fleisch als ich. Ich halte sie auch für klüger als mir. Äh, mich.

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    • Da hast du wohl Recht. Es wahr halt ein so schön plakativer Appell an uns selbst. Finde ich immer hübscher als anderen zu erklären, was sie unbedingt tun müssen … PS: In meiner kleinen Familie wundert sich meine Frau auch über die stark flexitarischen Ambitionen von mir und einem unserer Söhne ;-)

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      • Die Situation in der Billig-Fleischindustrie wird sich leider kaum vom deutschen Verbraucher lösen lassen.

        Die „Zeit“ hat wohl mit einem Insider gesprochen:
        „Deutsches Fleisch aus der Massenschlachtung ist vor allem ein Exportprodukt. Den Preis reguliert der Weltmarkt. Man muss sich unter anderem gegen die Konkurrenz aus Spanien, Polen, Russland, China und den USA behaupten. Selbst wenn deutsche Verbraucher bereit wären, mehr Geld zu bezahlen, wäre das moralisch ein wichtiges Signal, am Modell Billigfleisch insgesamt aber würde es vermutlich nicht viel ändern.“
        Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-06/bedingungen-gastarbeit-toennis-szabolcs-sepsi-rumaenisch-ausbeutung-fleischindustrie/komplettansicht

        Auch die Wiwo hat über Schweinefleisch-Exporte nach China durch Westfleisch berichtet.

        Das sieht nicht nach einer einfachen Lösung über den Preis für Supermarkt-Fleisch aus.

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  2. Ich meine, um vielfältige Widersprüche aufzulösen, muss man grösser denken. Einer hat die Wurzel in der Ökonomisierung gesehen: Antonio Gramsci, ein italienischer Philosoph und Schriftsteller aus dem vergangenen Jahrhundert, er nannte es einen historischen Block. Das neoklassische Wirtschaftsprinzip der freien Märkte, globaler Verflechtungen über Prozessketten und Externalisierung von Gewinnen ist zu einem globalen Paradigma geworden, dem sich Regierungen, Märkte und Unternehmen nicht mehr wirksam entziehen können, da sie es für alternativlos halten. Wir sind an dem Punkt angelangt, dass wir das Wirtschaftsmodell auf internationaler Ebene (WTO, UNDP, Weltbank) ändern müssen, damit Humanität (Wellbeing, Gesundheit, Natur und Umwelt) einen erstrangigen Stellenwert bekommt. Fleischindustrien in Argentinien und Brasilien werden eine Verteuerung der Produktion in Deutschland voraussichtlich nicht für eine nachhaltigere Prozessgestaltung nutzen. Wenn wir eine nachhaltigere, faire Wirtschaft wollen, können wir zwar als Konsumenten für uns konsequent handeln und Regierungen Akzente setzen, aber der politische Einfluss ist in den internationalen Beziehungen entscheidend. Dort brauchen wir einen Diskurs über neue Rahmenregeln der Nachhaltigkeit. Die EU sollte hier Antreiber sein …
    Zu gross gedacht? Sorry, aber alles andere bleibt Stückwerk.

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    • Das ist wohl wahr, entzieht sich aber dem Einfluss des Einzelnen. Und statt schulterzuckend weiterzumachen wie bisher („kann man ja eh nix machen“ …) kann man wenigstens versuchen, vor der Haustür etwas zu verändern, und sei es nur fürs eigene Gewissen. Think global, act local … Ist ja möglich, dass die vielen kleinen lokalen Impulse etwas Größeres in Bewegung setzen.

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      • Das habe ich nicht gemeint. Jeder Mensch zählt. Aber: um die Dilemata-Fallen zu reduzieren, ist Wandel auf Systemebene notwendig.

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